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Streit um Nationalen Bildungsrat
"Wir lernen nicht von unseren eigenen Forschungsergebnissen"

Es gebe keinen Beratungsbedarf in der Bildungspolitik, sagte Bildungsforscher Klaus Klemm im Dlf zum Streit um den Bildungsrat. Es brauche Politiker, die jene Kernpunkte umsetzten, in denen wissenschaftlicher Konsens bestehe. Dazu zähle auch der Bildungsauftrag im vorschulischen Bereich.

Klaus Klemm im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 07.12.2019
Acht Kinder stehen nebeneinander in der Kita, man sieht nur die Oberkörper und verdreckten Beine
Vermittlung von Sprachkompetenz oder der Einstellung zum Lernen sei nicht nur Sache der Familie, sondern auch des Staates, sagte Bildungsforscher Klaus Klemm im Dlf (dpa / picture alliance / Christian Charisius)
Jürgen Zurheide: In der Bildungspolitik hat es wieder einige wichtige Entscheidungen gegeben. Gibt es einen Bildungsrat oder nicht. Der Bildungsrat, der zwischen Bund und Länder gemeinsam verabredet war, den wird es wohl nicht geben. Jetzt gibt es neue Vorstellungen der Länder untereinander, die sich zumindest zusammenfinden wollen. Das ist das eine Datum, das wir beachten müssen. Das andere, es gibt bei PISA wieder neue Zahlen, und die sagen auf der einen Seite, die Spitzenleistungen haben zugenommen in Deutschland, allerdings die Differenz zwischen denen, die gut sind und denen, die schlecht sind, die sind wieder größer geworden. Über all das wollen wir reden, ob es einen Zusammenhang gibt, weiß ich nicht, das weiß aber möglicherweise mein Gesprächspartner, der Bildungsforscher Klaus Klemm. Guten Morgen, Herr Klemm!
Klaus Klemm: Guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Herr Klemm, brauchen wir einen Bildungsrat? Das wäre die erste Frage. Brauchen wir so was in Deutschland?
Klemm: Ich bin da skeptisch. Ich bin nicht sicher, dass wir ein Beratungsdefizit haben. Mein Problem liegt mehr darin, dass wir viele Ratschläge haben, aber relativ wenig konsistente Handlungen.
Nationaler Bildungsrat nicht an mangelnder Beratung gescheitert
Zurheide: Das ist die Frage. Wer muss da was machen, dass es auf der einen Seite mehr Koordination möglicherweise braucht zwischen den Ländern, sagen Sie ja oder nein?
Klemm: Koordination fehlt, überhaupt keine Frage, aber sie fehlt nicht deshalb, weil die nicht genug wissenschaftliche Beratung hätten, die da koordinieren sollten.
Zurheide: Das heißt, jetzt in diesem neuen Vorschlag, der von Hamburg kommt, der Hamburger Bildungssenator hat das vorgeschlagen, da sollen Wissenschaftler wieder Ratschläge geben. Sie sagen, die liegen auf dem Tisch. Was müsste denn gemacht werden?
Klemm: Also die Politik, die 16-Länder-Politiken, die müssten sich politisch darüber einigen, was sie wollen, was sie gemeinsam können, was nicht. Ich glaube auch nicht, dass die Kritik am dem Nationalen Bildungsrat, wie er im Koalitionsvertrag angesehen war, dass die daran gescheitert ist, dass die irgendwie dachten, da kriegen wir nicht die richtige wissenschaftliche Beratung, sondern da geht es zunächst mal darum, den Bund aus dem Geschäft des Entscheidens rauszuhalten. Zugleich machen die den neuen Vorschlag, aber wenn ich ihn richtig gelesen habe, ist er noch sehr unkonkret. Bisher machen die noch nicht den Vorstoß, die wichtigen Spieler in dem ganzen Geschäft, die Kommunen, die Landkreise, die großen Kreise, die Städte miteinzubeziehen, denn wenn wir koordinieren müssen, sind die in dem Geschäft mindestens so wichtig wie der Bund.
Zurheide: Fangen wir mal an mit dem Bund. Das ist ja immer die Grundfrage, Kulturpolitik und die Schulpolitik ist Länderhoheit, eine der letzten Hoheiten, die denen dann möglicherweise geblieben sind. Auf der anderen Seite muss der Bund ständig mitfinanzieren. Ist das nicht eine Schieflage von vornherein?
Klemm: Es ist deshalb auch eine besondere Schieflage, weil er einerseits mitfinanzieren muss, aber andererseits ja die Grenzen, das sogenannte Kooperationsverbot, die Grenzen zwischen dem, wo er mitwirken darf und wo er nicht mitwirken darf, ja sehr eng gezogen sind. Es gibt ja im Grunde wenig Möglichkeiten des Bundes einzuwirken auf Politik.
Sozialen Ausgleich durch den vorschulischen Bildungsauftrag schaffen
Zurheide: Jetzt fragen wir mal andersherum: Ich habe es gerade angesprochen, auch die PISA-Ergebnisse sind ja nicht so, dass man ruhig sein kann. Ich habe es gesagt, die Leistungen und die Spitzenleistungen sind etwas besser geworden, aber auf der anderen Seite ist die Bandbreite größer, und dadrunter steht immer der Strich, wir in Deutschland sind das Land, was in der OECD am wenigsten schafft, diejenigen zu befördern und fördern, die es eigentlich brauchen. Wo würden Sie ansetzen?
Klemm: Die Frage der sozialen Auslese, die Frage der sozialen Ungerechtigkeit, der Ungleichheit ist eine zentrale Frage, die ich beobachte, seitdem ich in dem Geschäft bin. Das sind schon viele Jahre. Wir müssten in der Tat – deshalb habe ich vorhin auch die Kommunen angesprochen – viel früher im vorschulischen Bereich anfangen, um das auszugleichen, was viele Familien ihren Kindern nicht bieten können. Das ist jetzt besonders krass natürlich noch mal durch die Zuwanderung der letzten Jahre, aber es gilt ja auch für die Leute, die immer schon hier gewohnt haben. Wir müssten ganz unten viel, viel mehr viel intensiver arbeiten und die Kinderkrippen, also die Einrichtungen für die Unterdreijährigen und die Kindergärten für die drei- bis fünfjährigen Altersjahrgänge, in diesem Bereich müssen wir viel, viel mehr tun. Wir dürfen den auch nicht nur als Aufbewahrung begreifen, wir müssen dafür sorgen, dass da Qualität geboten wird, die wirklich ausgleicht.
"Wir brauchen Politiker, die das angehen"
Zurheide: Das fängt an mit Sprachkompetenz. Da werden ja manchmal auch Vorschläge gemacht, die dann sofort wieder eine hohe Empörungswelle auslösen, aber richtig ist, ohne Sprachkompetenz geht gar nichts, oder?
Klemm: Das ist jetzt auch so ein Beispiel, an das ich eben gedacht habe. Es gibt überhaupt keine einzige Studie, keine wissenschaftliche Arbeit, die nicht darauf verwiese, wenn sie sich mit diesen Fragen beschäftigt, dass wir in dem Bereich bei Sprachkompetenz, aber auch in der Vermittlung von Arbeitshaltungen, von Einstellungen zu Lernen, in diesem Bereich viel früher viel mehr tun müssen. Da brauchen wir keine Wissenschaft, die das noch mal sagt, da brauchen wir Politiker, die das angehen, die das finanzieren, die rechtzeitig für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern sorgen. Da ist kein Beratungsbedarf.
"Aversion gegen staatliche Einrichtungen baut sich erst sehr langsam ab"
Zurheide: Auf der anderen Seite – Sie haben es angesprochen, Sie beobachten das lange, Sie sagen das auch nicht zum ersten Mal, wir reden ja auch nicht zum ersten Mal darüber –, warum passiert das bitte nicht?
Klemm: Im Moment haben wir handfeste Gründe dafür, wir haben gar nicht das Personal, um das angemessen auszustatten. Wir haben zu wenig Erzieherinnen, genauso wenig wie wie zu wenig Lehrer haben. Insofern haben wir da im Moment große Probleme. Wieso es nicht passiert, wir haben lange Zeit in Deutschland eigentlich davon gelebt, dass wir sagen, alle diese Dinge sind Sachen, sind Angelegenheit der Familien, es ist nicht die Aufgabe der Schule, in den Erziehungsprozess einzugreifen, Schulen sollen Kompetenzen vermitteln, und die Einrichtungen, Kindergarten und so, die hatten lange Zeit ja nicht mal den Bildungsauftrag. Das ist erst neuerdings seit also jetzt schon 20 Jahren bald, dass die Kindergärten auch einen Bildungsauftrag haben. Das ist neu. Wir haben eigentlich immer doch Positionen gehabt, dass wir sagten, wenn es um mehr als Kompetenzvermittlung geht, haben Einrichtungen des Staates nichts zu suchen. Ich erinnere eine lange Jahre zurückliegende Rede von Lothar Späth, damals Ministerpräsident in Baden-Württemberg, in der er gegen Ganztagsschulen gewettert hat und hat gesagt, da wollen die Linken die Kinder aus den Familien rausholen – ich übertreibe jetzt ein bisschen –, damit die dann kleine Sozialisten aus denen machen können. Also die Aversion gegen staatliche Einrichtungen außerhalb der Halbtagsschule, staatliche Einrichtungen, die sich um Bildung und Erziehung kümmern, die baut sich erst sehr, sehr langsam ab.
"Wir lernen nicht vom Ausland"
Zurheide: Das heißt, wir lernen zu wenig vom Ausland, denn diese Debatten, auch übrigens dann mit Schulformen, die, glaube ich, ein bisschen abgenommen haben, das könnten wir doch vom Ausland lernen, oder?
Klemm: Also die Debatten haben abgenommen, weil wir es nicht machen. Also wir gehen ja nicht den Weg, das immer noch zergliederte Schulsystem mehr zusammenzuführen, sondern wir behalten das ja. Wir haben ja nach wie vor diese vielen Schulformen, wir lernen da nicht vom Ausland, wir lernen auch nicht von unseren eigenen Forschungsergebnissen.
Zurheide: Also der Kernpunkt heute Morgen, was raten Sie der Bildungspolitik? Neue wissenschaftliche Räte machen, weniger Räte, mehr machen?
Klemm: Ja, oder wenn Sie schon einen Rat wollen, einen Rat beauftragen, Kernpunkte herauszugreifen, wo es einen wissenschaftlichen Konsens gibt – den gibt es ja auch nicht in allen Fragen –, den aber dann auch ernsthaft vorzunehmen. Noch mal zu den Bildungsräten: Wir haben 1968 vom Deutschen Bildungsrat – das ist ein Vorgänger, von dem, was jetzt wohl nicht kommt –, 1968 hat der vorgeschlagen, ein Versuchsprogramm zur Einrichtung von Ganztagsschulen einzurichten. 2002, 2003 haben wir dann angefangen, mehr Ganztagsschulen einzurichten.
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