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Streit zwischen CDU und CSU
"In dieser Frage hat sich die Bundeskanzlerin verrannt"

Das Verhalten der Kanzlerin in der Flüchtlingspolitik sei nicht gerade wähler- und wahlergebnisfördernd, sagte der CSU-Politiker und Journalist Wilfried Scharnagl im DLF. Es brauche dringend eine Kurskorrektur. Die Zusammenarbeit mit Angela Merkel aufzukündigen, sei trotzdem keine Option.

Wilfried Scharnagl im Gespräch mit Dirk Müller | 12.02.2016
    Der CSU-Politiker Wilfried Scharnagl.
    Der CSU-Politiker Wilfried Scharnagl. (dpa / Michael Kappeler)
    "Es wäre absurd zu sagen, wir müssen die Kanzlerin stürzen, um etwas zu bewegen", so Scharnagel, der früher Chefredakteur des "Bayernkurier" war. Die CSU und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hätten allerdings in der Flüchtlingspolitik unterschiedliche Ansichten. Scharnagel sprach sich für eine Sicherung der deutschen Grenzen aus. Hier sei dringend eine Korrektur der Politik Merkels notwendig. Sie habe sich aus Sicht Seehofers und der CSU in diesem Punkt verrant, sagte Scharnagl.
    Man hoffe aber immer noch, dass man einen Kompromiss finde. Eine Zusammenarbeit mache "selbstverständlich" noch Sinn.
    Mit Blick auf die Umfragewerte beurteilte Scharnagl die Position der Kanzlerin als "nicht gerade wähler- und wahlergebnisfördernd". Er geht davon aus, dass die nächsten Wahlen, wie etwas die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz maßgeblich von der Flüchtlingspolitik bestimmt werden - und das nicht zum Vorteil der CDU: "Bei den Landtagswahlen werden Ergebnisse kommen, die die anderen Parteien und vor allem die CDU nicht freuen werden."

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Horst Seehofer im September, eine Woche nachdem die Kanzlerin entschieden hatte, die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland einreisen zu lassen. Er sagte da: "Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird. Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen." Und weiter: "Das Problem ist nicht ein europäisches, sondern ein deutsches Problem."
    Was hat Seehofer im Oktober gesagt? "Das ist die Kapitulation des Staates vor der Realität." - Und dann Seehofer in Wildbad Kreuth vor rund fünf Wochen: "Wir dringen darauf, dass die schweren Fehler, die in Berlin gemacht werden, abgestellt werden."
    Es folgen der umstrittene Besuch bei Wladimir Putin und nun diese Aussage: "Es ist eine Herrschaft des Unrechts." Der CSU-Chef führt die Kanzlerin vor, kritisiert unentwegt die Politik von Angela Merkel. Daran ebenfalls beteiligt ist offenbar Edmund Stoiber. Der frühere Partei- und Regierungschef soll sogar eine treibende Kraft gegen die Kanzlerin sein.
    Was wollen die beiden Herren aus Bayern? Das wollen wir jetzt wissen von CSU-Kenner Wilfried Scharnagl, der das politische Wirken von Horst Seehofer und Edmund Stoiber seit Jahrzehnten aus allernächster Nähe genau beobachtet. Guten Morgen!
    Wilfried Scharnagl: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Scharnagl, stimmt das gar nicht, dass Herr Stoiber schon längst zurückgetreten ist?
    Scharnagl: Horst Seehofer ist Ministerpräsident, Edmund Stoiber war ein großer Ministerpräsident. Stoiber ist ein elder statesman mit einer Kompetenz und einer Erfahrung, die im Bereich der CSU sonst niemand hat, und er ist vor allem auch noch - und das gefällt mir fantastisch an ihm - von einer großen politischen Leidenschaft erfüllt, wie ich sie gerne mehreren oder allen jungen Politikern der CSU wünschen würde.
    Müller: Und er konnte die Kanzlerin noch nie leiden?
    Scharnagl: Das sind Behauptungen, die völlig jeder ernsthaften Betrachtung sich entziehen, weil sie keine ernsthaften Behauptungen sind, sondern einfach so journalistisches Gerede. Aber ich muss zurückkommen auf Ihre Zitate von Seehofer von September des letzten Jahres an. Ich muss sagen, eine beeindruckende Reihe beeindruckender Aussagen und Bewertungen, an deren Richtigkeit sich leider nichts geändert hat, sondern die bis auf den heutigen Tag gilt. Diese Entscheidung, das Recht bei Seite zu schieben, das heißt, sich nicht mehr an Verfassung und Gesetz zu halten, sondern unkontrolliert Hunderttausende und im letzten Jahr eine Million - und in diesem Jahr geht es ja so weiter - ins Land zu lassen, ist ein Thema, das mit aller Dramatik angesprochen wird. Und nachdem es aus den Koalitionsparteien niemand tut, ist es die CSU, die diese Position übernimmt.
    Scharnagl: In der Flüchtlingsfrage hat sich Merkel aus Sicht der CSU verrannt
    Müller: Reden wir, Herr Scharnagl, mit Verlaub noch mal über das journalistische Gerede, wie Sie es sagen. Edmund Stoiber, Horst Seehofer - welches Problem haben die beiden mit der Kanzlerin?
    Scharnagl: Die haben kein Problem mit Frau Merkel; die haben ein Problem mit einer politischen Entscheidung, die sie für falsch halten, die die überwältigende Mehrheit der Deutschen für falsch hält, was man auch daran sieht, dass Frau Merkel im Ansehen und in der Beliebtheit einen dermaßen Einbruch erfährt in den letzten Monaten, wie er früher unvorstellbar gewesen wäre, und dass umgekehrt die Zustimmung zu Seehofer und der CSU und ihrer Politik immer weiter wächst.
    Müller: Also ist Frau Merkel doch das Problem?
    Scharnagl: Sie ist insofern kein Problem, weil sie eine große und erfolgreiche und tüchtige Kanzlerin seit einem Jahrzehnt ist. Aber in dieser Frage hat sie sich aus Sicht der CSU und aus Sicht Seehofers und aus Sicht Stoibers verrannt und hier müsste dringend eine Korrektur erfolgen. Es kann nicht sein, dass wir in einer Situation leben, dass der Artikel 16, der Asylartikel des Grundgesetzes, europäische Verträge nicht eingehalten werden, sondern 24 Stunden am Tag gebrochen werden, und um das Problem zu ändern, muss die Politik geändert werden.
    Müller: Jetzt sagt Horst Seehofer, Herr Scharnagl, seit September, es muss sich etwas ändern. Es hat sich, wenn überhaupt, nur ganz marginal aus seiner Sicht etwas geändert. Geht mit dieser Kanzlerin eine Änderung der Politik?
    Scharnagl: Ich kann nur sagen: Alles was sich geändert hat seit dem Herbst, und das ist einiges und jetzt nach vielen Quälereien und Hin und Her der SPD auch das berühmte Asylpaket II, geht letzten Endes auf das Drängen und auf Vorschläge und Konzepte der CSU zurück. Sichere Staaten, Balkan und all diese Dinge, die es gibt und die bekannt sind und die gewisse Verbesserungen gebracht haben, das ist Erfolg der CSU-Politik, aber dass der große entscheidende Griff, wir müssen unsere Grenzen selbst sichern, wenn die europäischen Regeln, denen wir gerne folgen würden, wenn sie denn funktionieren würden, nicht funktioniert, und das geht eben nicht. Ich meine, das Schengen-Abkommen beruht darauf, die Reisefreiheit in Europa, im Europa der Europäischen Union beruht darauf, dass die Außengrenzen absolut gesichert sind, und da ist doch keine Rede davon.
    Müller: Herr Scharnagl, ich muss Ihre Kompetenz, Ihre Erfahrung, Ihr Wissen jetzt nutzen hier im Deutschlandfunk, um über das Binnenverhältnis zu reden. Die bayerischen Ministerpräsidenten - wir haben Edmund Stoiber extra mit reingenommen - und Angela Merkel. Gehen die beiden, Stoiber und Seehofer, davon aus, ernsthaft davon aus, das ist jetzt meine Frage, dass sich dieses Problem mit dieser Kanzlerin lösen lässt?
    Scharnagl: Selbstverständlich! Darauf hoffen wir immer noch, nicht zuletzt, weil über viele Jahre hin die Zusammenarbeit mit Frau Merkel glänzend funktioniert hat.
    Müller: Aber jetzt ja nicht mehr.
    Scharnagl: Im Moment gibt es einen, das ist ein Punkt, an dem sie nicht funktioniert. Die Politik besteht ja nicht nur, auch wenn jetzt im Moment die Flüchtlingspolitik das überragende Thema ist, aber es gibt ja Themen vielfältiger Art, auf denen man sich hervorragend versteht.
    Scharnagl: Verhalten der Kanzlerin ist nicht gerade Wähler oder Wahlergebnisse fördernd
    Müller: Aber wird die Flüchtlingspolitik die nächsten Wahlen entscheiden?
    Scharnagl: Das, glaube ich, ja. Das, glaube ich, das wird sein.
    Müller: Ist das der entscheidende Punkt? Alles andere, was vorher war, spielt keine Rolle?
    Scharnagl: Das kann man so nicht sagen. Das ist mir zu pauschal und zu allgemein. Aber insgesamt die öffentliche Debatte - Sie brauchen sich, das brauche ich Ihnen nicht sagen, die Medien jeden Tag anschauen, Sie müssen sich das politische Leben anschauen, Sie müssen sich die Versammlungen der Parteien anschauen, ob die großen Veranstaltungen oder die kleinen Ortsvereine -, überall ist das Flüchtlingsthema das zentrale Thema und die Menschen erwarten, dass der Staat handelt, und die Menschen erwarten, dass das Recht, das in diesem Fall in der Tat gebrochen wird, wiederhergestellt wird.
    Müller: Gefährdet die Kanzlerin den Erfolg der Union?
    Scharnagl: Ich kann nur sagen, wenn ich die Wahlergebnisse anschaue, ist auf jeden Fall das Verhalten der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin in dieser Frage nicht gerade Wähler und Wahlergebnisse fördernd für die Union.
    Müller: Also heißt das ja?
    Scharnagl: Eher ja.
    Müller: Und macht es dann Sinn, mit ihr weiterzumachen?
    Scharnagl: Selbstverständlich! - Selbstverständlich! - Ich meine, es wäre absurd zu sagen, wir müssen die Kanzlerin stürzen, um irgendetwas zu bewegen. Wir müssen sagen, es muss insgesamt im Konsens eine Lösung gefunden werden, und da muss mehr passieren, als bisher passiert ist. Es ist einiges passiert, ich sage es, jetzt in diesen Tagen Asylpaket II, aber generell muss die Position, dass Deutschland seine Grenzen nicht schützen kann oder schützen darf, weil das angeblich Europa tut, diese Position ist meiner Meinung nach nicht haltbar, weil es Europa nicht tut. Und wie uns Europa allein lässt, das sehen wir in allen Fragen, Verteilung der Flüchtlinge und Ähnliches mehr, hängt leider damit zusammen, dass die Europäer sagen, das ist ein deutsches Problem, das hat die Bundeskanzlerin Europa eingebrockt, nun soll es auch die Bundeskanzlerin und Deutschland lösen. Das ist der Ansatz, und darum nehmen die anderen auch keine Flüchtlinge. Die sagen, das ist ein deutsches Problem, die Deutschen haben eingeladen.
    Müller: Aber die Kanzlerin bleibt ja dabei und sagt, wir müssen das europäisch lösen, und viele haben ja berechtigte Zweifel daran, dass das die Europäer eben nicht lösen werden.
    Scharnagl: Aber ich glaube, wenn das Hochwasser steigt, steigt auch der Einsatz.
    Scharnagl: Politische Kräfte wie die AfD sind völlig überflüssig
    Müller: Nach den nächsten Landtagswahlen ist alles anders?
    Scharnagl: Das ist durchaus möglich. Ich meine, über die Zukunft zu reden, ist deshalb so schwierig, weil man sie nicht kennt. Aber jetzt warten wir die Landtagswahlen ab und dass politische Kräfte, die absolut überflüssig, schädlich und eigentlich dann auch völlig überflüssig sind, nämlich AfD und Co. Wenn ich die Umfragen richtig sehe - und Sie kennen sie besser -, dann heißt das, bei den Landtagswahlen werden Ergebnisse kommen, die die anderen Parteien, die CDU vor allem, nicht freuen werden.
    Müller: Machen wir noch ein unlauteres Gedankenspiel, Herr Scharnagl. Mit Wolfgang Schäuble als Kanzler, würde sich dann die Politik in Ihrem Sinne ändern?
    Scharnagl: Das ist eine Spekulation, an der sich die CSU nicht beteiligt.
    Müller: Aber ich habe jetzt ja Sie gefragt. Sie sind ja unabhängig von der CSU, Sie sind ein freier Geist.
    Scharnagl: Ja, ich bin unabhängig. Aber ich glaube nicht. Warum soll ich eine völlig irrealistische Annahme debattieren, wenn ich sie für völlig unrealistisch halte.
    Müller: Die Forderung hört man immer wieder. Das heißt: Alles Schall und Rauch, Quatsch?
    Scharnagl: Jetzt rede ich für die CSU, die ich kenne. Ich kenne niemand in der CSU, der diese Forderung ernsthaft betreibt.
    Müller: Auch Edmund Stoiber nicht?
    Scharnagl: Auch Edmund Stoiber nicht.
    Müller: Bei uns heute Morgen live im Deutschlandfunk Wilfried Scharnagl, CSU-Kenner und CSU-Intimus. Vielen Dank für das Gespräch. Danke, dass Sie wieder Zeit gefunden haben.
    Scharnagl: Danke!
    Müller: Schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.