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Streit zwischen West- und Osteuropa
Was die Entsenderichtlinie regelt und wie die Praxis aussieht

Die Freizügigkeit für Unternehmer und Arbeitnehmer ist Praxis in der EU. Details sind aber umstritten: Zum Beispiel die Entsenderichtlinie. Sie betrifft Arbeitnehmer, die vorübergehend im Ausland tätig sind. Einige westeuropäische Länder wollen Änderungen - Regierungen aus Mittel- und Ost-Europa sind dagegen.

Von Alois Berger und Stephan Ozsváth | 22.06.2017
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    Zuwanderer aus Ost-Europa arbeiten auf einer Baustelle (Arne Dedert dpa/lhe )
    Die Europäische Entsenderichtlinie von 1996 regelt die Bedingungen, unter denen die ausländischen Arbeitskräfte eingesetzt werden dürfen. Sie müssen nicht in Deutschland, aber nachweislich in ihrem Heimatland sozialversichert sein, sie müssen die deutschen Höchstarbeitszeiten einhalten und sie müssen den deutschen Mindestlohn bekommen, der in der Regel ein gutes Stück unter dem Tariflohn liegt.
    Zwei Millionen Menschen arbeiten in Europa auf Zeit in einem anderen Land. Acht Prozent sind selbständige Handwerker. Für sie gilt die Dienstleistungsrichtlinie. Die anderen 92 Prozent fallen als Arbeitnehmer unter die Entsenderichtlinie.
    Weniger Bürokratie durch Dienstleistungsrichtlinie
    Die Dienstleistungsrichtlinie, bekannt auch als Bolkestein-Richtlinie, bestimmt, was Regierungen von Firmen aus dem EU-Ausland verlangen dürfen, beispielsweise an Berufsabschlüssen. Viele bürokratische Vorschriften, die gemacht wurden, um ausländische Konkurrenz abzuschrecken, sind seitdem verschwunden. Ein Schreinermeister mit Sitz in Aachen kann heute auch in Belgien Fenster einsetzen, ein polnischer Fliesenleger zu polnischen Preisen in Berlin Fliesen legen. Bringt er aber Angestellte mit, dann gilt für diese die Entsenderichtlinie mit all ihren Auflagen.
    Diese Entsenderichtlinie soll nun verschärft werden. Vor allem Frankreichs neuer Präsident drängt darauf. Für Frankreichs Politiker ist es Sozialdumping, wenn polnische Arbeiter weniger verdienen als französische. Stattdessen soll es gleichen Lohn geben für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Die konservative französische Europaabgeordnete Elisabeth Morin-Chartier: "Die Bezahlung muss den Mindestlohn plus alle Zulagen enthalten, also das 13. Monatsgehalt, Erschwerniszulagen, Kältezulagen, kurz: die ausländischen Arbeiter müssen finanziell den nationalen Arbeitern gleichgestellt werden."
    Westeuropa für Änderungen, Osteuropa dagegen
    Die Länder im Westen der EU unterstützen die Änderungsvorschläge. Die im Osten protestieren. Eine völlige Gleichstellung mit lokalen Arbeitskräften sei unfair und nehme den mittel- und osteuropäischen Ländern die Chance, wirtschaftlich aufzuholen. Martyna Biedzinkewicz verhandelt in Brüssel für die polnische Regierung:
    "Es ist ganz natürlich, dass Unternehmen im Binnenmarkt miteinander in Wettbewerb stehen. Die Vorteile für polnische Unternehmen sind neben der hohen Qualität der Dienstleistungen auch die niedrigen Arbeitskosten. Wir sehen darin ein natürliches Phänomen der Wirtschaft. Eine protektionistische Entsenderichtlinie widerspricht den Grundprinzipien der Europäischen Union."
    Die westlichen EU-Länder klagen über Sozialdumping, die Ost-EU-Länder über Protektionismus. Die Fronten sind verhärtet.
    Beispiel: Österreich
    Eine Großbaustelle in Wien, direkt am neuen Hauptbahnhof. Kräne tanzen um zwei Rohbau-Türme. In einem Container sitzen drei Männer und sortieren Elektrobauteile – zwei Österreicher, ein Pole.
    Hinten im Container hockt Peter aus Oppeln. Seit Februar ist er auf der Baustelle.
    "Ich bin ein Monteur in der Firma und jetzt bereiten wir Tüll für die Decke vor. Zwei Hotel-Türme und drei Wohnungs-Türme. Ich habe einen Kollektivvertrag. Wie die anderen Firmen funktionieren oder Leihfirma, das weiß ich nicht. Interessiert mich nicht. Bei mir funktioniert alles richtig."
    Nur wenige Meter weiter: Dort wird ein Hochhaus hoch gezogen. Der Security-Mann ist ein Serbe. Die Bauarbeiter kommen von überall her, innerhalb und außerhalb der EU. Ilir stammt aus Peja im Kosovo, lebt seit sieben Jahren in Wien.
    "Wir arbeiten Vollzeit. Normal. Kollektivvertrag, ja. Wir haben keine österreichische Staatsbürgerschaft, aber Aufenthaltstitel. Wir arbeiten für alles. Es gibt verschiedene Kollegen aus Ungarn, aus der Slowakei und aus anderen Ländern. Multikulti, sag ich mal."
    Kaum Österreicher auf den Baustellen
    Schon diese kleine Stichprobe bestätigt: Österreicher arbeiten kaum noch auf den Baustellen. Josef Witke, Präsident der österreichischen Elektriker-Innung, bestätigt das. Er selbst hat 70 Angestellte im Bau-Nebengewerbe.
    "Klein-Baustellen, Reparaturen machen wir noch. Spezialaufgabengebiete machen wir auch noch. Aber wenn es um Nullachtfünfzehn-Installationen geht, auf einer Roh-Baustelle, dann werden sie kaum einen Österreicher finden. Bestenfalls den Polier, der die kontrolliert, die aus dem Ausland kommen."
    Laut EU-Regeln dürfen Firmen aus den Nachbarländern in Österreich tätig werden – Freizügigkeit ist ein Grund-Credo der EU. Die Kehrseite allerdings: "Diese Entsenderichtlinie führt zu Sozial- und Lohndumping. Der Kollektivvertrag in den Nachbarländern unter 400 Euro, bei uns in der Baubranche der dreifache Wert,"
    sagt Hans Niessl, SPÖ-Ministerpräsident des Burgenlandes, das an die Slowakei und Ungarn grenzt. Das Dumping-Modell sieht häufig so aus: Lohn wie in Österreich, Lohnnebenkosten wie in den östlichen Nachbarländern. Sozialdemokrat Niessl, der mit den Rechtspopulisten von der FPÖ regiert, will die Entsenderichtlinie am liebsten ganz abschaffen. Auch Elektriker-Innungschef Josef Witke hat damit schlechte Erfahrungen gemacht: "Wir haben einen absoluten Preisverfall, weil die Firmen aus dem Ausland rund um ein Drittel des Geldes arbeiten, das wir brauchen würden, um kostendeckend arbeiten zu können."
    Gleiches Land, gleicher Lohn
    Die Politik möchte das nun auf EU-Ebene ändern und einheitliche Sozial-Standards einführen. Österreichs Sozialminister Alois Stöger von den Sozialdemokraten sagt: "Es müssen gleicher Lohn und gleiche Arbeit am gleichen Ort als die Zielsetzung der Entsenderichtlinie umgesetzt werden"
    Offiziell sind im letzten Jahr 135.000 Beschäftigte aus anderen EU-Ländern nach Österreich zum Arbeiten gekommen – die EU-Jobber ersetzen laut einer Studie der Handwerksinnungen fast 44.000 Österreicher. Der Staat zahlt dabei drauf: 1,5 Milliarden Euro entgangene Steuern und nicht eingespartes Arbeitslosengeld. Das ist der Preis für die EU-Freizügigkeit.