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Streiter für Wagners Kunstwerk

Dieter Borchmeyer befreit mit seiner Schrift den Komponisten nicht nur vom Firnis des 19. Jahrhunderts, sondern auch vom Firnis politischer Zuschreibungen jener Forscher, die meinen, an Wagner "das schlechte Gewissen der unheilvollen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts" abarbeiten zu müssen.

Von Christoph Schmitz | 20.05.2013
    Der Germanist Dieter Borchmeyer ist für das Werk Richard Wagners so etwas wie ein Genetiker aus dem Geiste der Philologie. Und das ist bei Wagner schon mehr als die halbe Miete. Denn er ist bekanntermaßen nicht nur ein Komponist, der nebenbei als nette Zugabe mehr oder weniger zufällig die Texte seines Musiktheaters selbst schrieb. Wagner ist ein Dichter in Wort und Musik. Einer der die Entfremdung einer in Sparten aufgeteilten Kunstpraxis überwinden wollte. Seine sozialrevolutionären Überzeugungen übertrug er auf die Bühne. Am Anfang aber steht bei Wagner das Wort, das zugleich schon Klang ist. Die DNA des Wortklangs, wie sie sich im Werk des gern als "umstritten" bezeichneten Jahrhundertgenies zu einem unvergleichlichen Kosmos entwickelt, das interessiert Dieter Borchmeyer seit Jahrzehnten. In seinem neuen Buch, "Richard Wagner. Werk, Leben, Zeit" zeigt er einmal mehr, wie schon beim jungen Leipziger Ur- und Leitmotivisches seines hügeltauglichen Werkes im Keim aufzuspüren sind; wie der Bayreuth-Kanon vom "Fliegenden Holländer" bis zum "Parsifal" – vom "Tristan" abgesehen – im Marienbader Sommer 1845 vorbereitet wird; und welch zentrale Rolle Beethoven und die Weimarer Klassik in Leben und Werk Wagners einnehmen. Die Anbindung an Goethe und Schiller stiftet Dieter Borchmeyer mit System:

    "Ich bin eigentlich ein Feind des 19. Jahrhunderts. Meine eigentliche geistige Heimat ist doch mehr die alteuropäische Welt, ob es nun die griechische ist oder auch das Mittelalter, vor allem aber das 18. Jahrhundert, und ich versuche immer wieder, Wagner an das 18. Jahrhundert anzubinden, für was Vieles spricht, und ihn aus dem ganzen ideologischen Sumpf des späteren 19. Jahrhunderts herauszuziehen. Das ist für mich eine Art Rettung Wagners vor dem 19. Jahrhundert. Und das geschieht ja nicht mit Krampf, denn Wagner war ein intimer Goethe-Kenner und ein intimer Schiller-Kenner. Er kannte das ganze Oeuvre von Goethe und Schiller im Wesentlichen."

    Immer wieder lässt Borchmeyer die literar- und kulturhistorischen Verbindungen in Wagners Schaffen aufblitzen, etwa die frühromantische Nachtmetaphorik im Umfeld der Analyse von "Tristan und Isolde". Und wenn es um das Verhältnis zwischen Wagner und seinem Schwiegervater Franz Liszt geht, scheint zweierlei auf: zum einen Liszts Utopie einer neuen Weimarer Blüte nach Goethe und Schiller, eines zweiten Künstlerfürstentums, diesmal mit Liszt und Wagner an der Spitze. Zum anderen: eine europäische Epochenwende, wie sie sich im Konflikt zwischen den beiden Tonsetzern spiegelt. Das alte katholisch-romanische Europa des Weltbürgers Liszt gerät gegenüber der protestantisch-preußischen Bürgerwelt Wagners ins Hintertreffen. So intensiv Borchmeyer sich immer wieder einzelnen Werken widmet, deren Zusammenhänge, Wagners theoretischen Unterfütterungen und seinen Lebensstationen, so genau behält der Autor die großen Entwicklungsschübe und –phasen im Blick. Dem von der französischen und italienischen Oper inspirierten Frühwerk - "Feen", "Liebesverbot", "Rienzi" - folgt die romantische Oper. Von deren scheiternden Erlösungshoffnungen im "Lohengrin" löst sich der "Ring des Nibelungen" mit seinem großmythologischen Weltentwurf. Der Mythos aber - macht Borchmeyer deutlich - war bei Wagner nie ein ideologischer Rückfall in vermeintlich germanische Herrlichkeit.

    "Der Mythos bot für ihn Grundstrukturen unserer Welt, die sich immer wiederholen in immer neuen Variationen. Und für ihn ist die ganze Geschichte eigentlich eine Wiederholung, eine Rekapitulation mythischer Grundmuster."

    So wie Borchmeyer Wagner aus dem Dunst des 19. Jahrhunderts retten will, so will er ihn nicht nur in der Klassik, sondern seine germanische Mythologie zudem in der Antike verankern.

    "Er wollte gewissermaßen die Germanen und das Mittelalter auf Vordermann bringen, nämlich auf griechischen Vordermann, indem er ihnen diese griechischen Strukturen einstiftete. Wotans Verhältnis zu Brünhilde – ja, wenn dahinter nicht Wagners Faszination durch das Verhältnis von Zeus und Athene stünde, dann hätte er das gar nicht schaffen können. Und das hat er teilweise auch selbst gesagt. Den "Fliegenden Holländer" hat er mit dem Odysseus verglichen, er hat den Zeus-Semele-Mythos als Hintergrund seines "Lohengrin" dingfest gemacht, im "Tannhäuser" kommt ja Venus höchstpersönlich sogar vor. Und natürlich die griechische Tragödie, die griechische Trilogie bildet den Strukturhintergrund des "Rings", die Dionysien, die Tragödien-Feste der Griechen waren für ihn die Inspiration für die Festspiele von Bayreuth."

    Es ist ein kurzweiliges Vergnügen, Borchmeyers Weg durch Wagners Werk und Leben zu folgen. Denn er erzählt. Und sein Erzählen verläuft chronologisch, durch ein von Revolution, Flucht, Heimatlosigkeit, Armut, Verschwendung und Liebschaften geprägtes Leben. In diesen dramatischen Spannungsbogen setzt Borchmeyer geschickt thematische Exkurse. Der Untertitel seines Buches, "Werk, Leben, Zeit", gibt die Stoßrichtung der Untersuchung vor, die laute eben ...

    " ... nicht Zeit, Leben, Werk, sondern Werk, Leben, Zeit – ich kehre es um. Und ich insistiere wirklich darauf, dass Wagners Werke keine Derivate seines Lebens sind, sondern dass es eher umgekehrt ist wie in meinem Lieblingszitat des großen Musikologen Becker, Wagner hat nicht den 'Tristan' geschrieben, weil er in Mathilde Wesendonck verliebt war, sondern er war in Mathilde Wesendonck verliebt, weil er den 'Tristan' geschrieben hat. Es war so, dass er sehr dazu neigte, tatsächlich seine Imagination aufs Leben zurückzubeziehen, das heißt, das Werk aufs Leben zu übertragen. Aber Wagner hat immer wieder betont, dass sich aus dem Leben im Grunde für das Werk nicht viel ableiten lässt, und hat dafür in seinen späten Schriften ein wunderbares Bild gefunden, dass er sagte, der wahre Künstler schöpft nicht aus dem Leben, aus dem, was er gesehen hat, sondern er hat das Zweite Gesicht für das nie Gesehene. Das stimmt. Und damit muss man sich jeden Biografismus vom Leibe halten, wie ich das in meinem Buch auch getan habe."

    Dieter Borchmeyer erzählt nicht nur, er inszeniert geradezu folgenreiche Begegnungen im Leben Richard Wagners, zum Beispiel die von Anfang an bizarre Beziehung zwischen dem Komponisten und Ludwig II. Als Retter in höchster Not tritt der bayerische König ins Leben eines verzweifelten Mannes. Borchmeyer erzählt nicht das erste Mal davon. In seinem neuen Buch zieht der Autor die Summe einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Richard Wagner.

    "Ich wollte wirklich ein Konzentrat meiner bisherigen Einsichten zu Wagner bieten, und ich wollte mich einem allgemeineren Publikum verständlich machen."

    Was ihm gelingt. Borchmeyer tritt auf als Verteidiger des Werkes eines antisemitisch polemisierenden und des Chauvinismus zu Unrecht bezichtigten Künstlers. Wenn Hans Sachs in seiner Festrede am Ende der "Meistersinger" die "heil'ge deutsche Kunst" hochhalte gegen den "wälschen", also südeuropäischen "Tand", dann verstehe Wagner unter "deutsch" vor allem eine Eigenschaft: eine Sache um ihrer selbst willen und der reinen Freude wegen zu betreiben. Und Hans Sachsens Ablehnung des "Wälschen" sei im historischen Meistersinger-Kontext des 16. Jahrhunderts zu verstehen, als ...

    " ... mit der Ablösung Kaiser Maximilians durch Karl V. die Fürsten sich total dem Volk entfremdeten, denn Karl V. konnte kaum Deutsch, redete nur mit seinen Pferden deutsch, es kam zuerst die italienische Hofsprache, dann die französische Sprache, noch im 18. Jahrhundert, wer gebildet war, redete Französisch, die Höfe waren völlig französisch orientiert und interessierten sich nicht für die deutsche Kultur, siehe diesen Essay 'De la littérature allemande' von Friedrich dem Großen; das ist ein ganz großer Mangel der deutschen Kulturgeschichte, eine Tragödie der deutschen Kulturgeschichte, das hat Wagner damit gemeint, dass kein Fürst mehr sein Volk versteht, es war so, sie verstanden es nicht."

    Borchmeyer tritt mit seinem Buch an gegen die Verletzung eines philologischen Konsenses, dem zu Folge ein Werk unabhängig von den persönlichen Ansichten des Künstlers Bestand hat, ein Grundsatz, der in der Wagner-Forschung, so Borchmeyer, immer wieder aufgekündigt werde. In der Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus, der sich explizit in seiner Schrift mit dem Titel "Das Judentum in der Musik" äußert, differenziert das Buch sehr sorgfältig. Es ergreift Partei für die Unabhängigkeit der Kunstbetrachtung von Meinungsäußerungen des Künstlers. In diesem Punkt unterscheidet sich Borchmeyer von anderen Forschern, die, wie Jens Malte-Fischer in seinem aktuellen Wagnerbuch, mehr als deutliche Spuren von Wagners Antisemitismus in dessen Kompositionen gefunden zu haben glauben.

    "Man kann auch nicht verkennen, dass Wagner im Unterschied und gerade in Opposition gegen Gobineau, das rigorose, fatalistische Rassendenken entschieden verworfen hat. Dafür gibt es im Alter viele Beispiele, aber schon 'Das Judentum in der Musik' hört ja auf mit der Vision, dass die Juden mit uns einig und ununterschieden sein können, wenn sie sich an dem allgemeinen menschlichen Emanzipationsprozess beteiligen, und das ist in den Spätschriften erst recht ausgedrückt. Dem stehen natürlich diese schrecklichen Gehässigkeiten wiederum gegenüber. Aber in seinem Werk: Er hat gesagt, der 'Tristan' ist Musik für die Aufhebung aller Rassen. Und im Gegensatz zu manchen eigenwilligen Antisemitismus-Fahndern habe ich bis jetzt noch keine antisemitischen Spuren in seinem Werk entdecken können. Warum hat dieser wahnsinnig redselige Mensch denn nicht ein einziges Mal gesagt, ja, den Mimen habe ich eigentlich als Judenkarikatur gedacht? Nichts! Wenn jemand mit so etwas kam wie bei Beckmesser, ja ist denn da nicht etwas Jüdisches wie Synagogenmusik dargestellt, dann wurde er böse. Nein, das war es nicht. Ein Kunstwerk ist eine andere Welt. Und eine wirkliche Kunstfigur hat viele Schichten. Und selbst wenn da ein Stückchen Antisemitismus drin wäre, erklärt das noch nicht die ganze Figur. Aber selbst dieses Stückchen Antisemitismus kann ich nicht entdecken, weder bei Mime, noch Beckmesser, noch bei Kundry."

    Dieter Borchmeyer befreit mit seiner Schrift den Komponisten nicht nur vom Firnis des 19. Jahrhunderts, sondern auch vom Firnis politischer Zuschreibungen jener Forscher, die meinen, an Wagner "das schlechte Gewissen der unheilvollen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts" abarbeiten zu müssen. Selten sind Wagners Werke und Vorstellungen im Lebenskontext des Komponisten so anschaulich und philologisch redlich dargestellt worden wie bei Dieter Borchmeyer.