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Streitgespräch
Sollen Politiker Seelsorger sein?

Wenn in der Gesellschaft Ängste wachsen, ist die Politik gefordert, findet Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz. Er kritisiert die Beschimpfung von Pegida-Anhängern als "Pack" und die "einsame Entscheidung" der Kanzlerin für ihr Wir-schaffen-das-Credo. Der Greifswalder Dompfarrer Matthias Gürtler dagegen hält Merkels Worte für ermutigend.

Hans-Joachim Maaz und Matthias Gürtler im Gespräch mit Christiane Florin | 13.09.2016
    Matthias Gürtler, Hans-Joachim Maaz (v.l.)
    Matthias Gürtler, Hans-Joachim Maaz (v.l.) (Imago / Willnow / Wittfeld)
    Christiane Florin: Der Journalist Heribert Prantl schrieb kürzlich in der "Süddeutschen Zeitung" in einer Ausgabe für Kinder, wie das so ist mit der Angst und der AfD: Als Kind habe man oft Angst vor Monstern und Geistern im Keller. Und dann beschrieb Prantl verschiedene Arten, mit dieser Angst umzugehen. Da sind die einen, die Monster besonders schaurig und groß ausmalen. Und da sind die anderen, die Licht in den Keller hineinlassen und zeigen, dass es gar keine Monster gibt. Doch so kinderleicht ist es in der großen Politik dann doch nicht. "Ihr braucht keine Angst zu haben. Deutschland geht es gut. Da steigt keine Bedrohung aus dem Keller." Solche Wählerbeschwörung verfängt offenbar nur bedingt. Laut einer neuen Allensbach-Umfrage bewerten zwar 70 Prozent der Deutschen im mittleren Alter ihre Lebensqualität als gut oder sehr gut, aber nicht einmal die Hälfte dieser Befragten sieht dem nächsten Jahr mit Hoffnung entgegen. Da sind also Geister, die sich nicht so leicht vertreiben lassen.
    Was fürchten die Deutschen? Welches sind die vielzitierten Sorgen und Nöte? Und ist es berechtigt, zwischen berechtigten und unberechtigten Ängsten zu unterscheiden? Zwei Gesprächspartner sollen in dieser Sendung helfen, darauf Antworten zu finden. Der eine ist Hans-Joachim Maaz, Psychotherapeut und Autor. Sein Buch "Der Gefühlsstau" war 1990 der erste gesamtdeutsche Sachbuch-Bestseller. Er ist uns aus Halle zugeschaltet. Guten Morgen Herr Maaz.
    Hans-Joachim Maaz: Guten Morgen, ich grüße Sie.
    Florin: Und in Greifswald begrüße ich Matthias Gürtler. Er ist evangelischer Pfarrer, Dompfarrer genau genommen. Guten Morgen Herr Gürtler.
    Matthias Gürtler: Guten Morgen, Frau Dr. Florin.
    Terrorangst im Kindergarten
    Florin: Herr Gürtler, in Greifswald hat fast jeder Dritte bei der Landtagswahl für die AfD gestimmt. Ein Spitzenwert in Mecklenburg-Vorpommern. Bekommen Sie es da mit der Angst zu tun?
    Gürtler: Mit Sorgen schon. Ich erinnere mich noch an den Plakatwald, der mir ständig begegnete, wenn ich durch die Stadt gefahren bin. Ganz oben die NPD, weil das Plakat der NPD natürlich am meisten bedroht war. Darunter die AfD und dann die anderen Parteien. Man hatte das Gefühl, da gibt es sehr viel Auswahl für die Menschen. Ich hatte natürlich schon die Sorge, dass die AfD und womöglich auch die NPD, die ja hier im Landtag sitzt, stark zunehmen werden. Das ist eine konkrete Sorge gewesen. Angst hatte ich persönlich nicht. Aber ich treffe natürlich auch Menschen, die Angst haben. Wie wird es denn weitergehen? Wie wird die Zukunft aussehen?
    Florin: Wovor haben die Menschen Angst, die sich an Sie als Seelsorger wenden?
    Gürtler: Ich erinnere mich an eine ganz konkrete Situation. Eine Flüchtlingsfamilie wohnte bei uns im Kindergarten in Räumen, die der Kindergarten nicht nutzt. Und die Eltern, die ihre Kinder zum Kindergarten bringen … Ich merkte schon, die Situation wurde immer enger für mich – Angst und Enge hängen ja oft zusammen – weil einige Kindergarteneltern diese Flüchtlinge nicht wollten. Die wollten sie nicht so dicht haben und machten sich konkret Sorgen, hatten auch Angst, dass diese Flüchtlinge aus Afghanistan andere mitziehen, die ihren Kindern schaden könnten. Also Angst vor Terror, Angst vor irgendwelchen Gruppierungen, die nach Deutschland kommen. Und das, was in anderen Ländern wir erleben, Krieg, Terror, dass das jetzt auch ganz nah mitten in unsere Stadt, mitten in den Kindergarten kommt.
    "Ein Spiegelbild für gesellschaftliche Probleme"
    Florin: Herr Maaz, Sie kennen sich besonders gut mit der ostdeutschen Seele aus, wenn ich das so pauschal sagen darf. Ist Angst wirklich eine politische Kategorie geworden? Oder ist das eine Erfindung von uns Journalisten?
    Maaz: Nein, es müsste eine politische Kategorie werden, denn wenn Menschen Angst haben, dann ist die Politik gefordert, zu fragen aus welchen Gründen. Aus der therapeutischen Sicht gibt es ja immer reale Anlässe für Ängste, aber eben auch aufgestaute seelische Probleme, die unbewältigt sind und von daher Angst machen. Wir sprechen also von neurotischen Ängsten oder eben verborgenen Ängsten, die eine Rolle spielen. Wenn dann äußere Anlässe dazukommen, kann die Reaktion des Menschen sehr viel heftiger sein, als der äußere Anlass es hergibt. Und das ist für uns ein Zeichen, dass in der Seele des Menschen etwas aufgestaut ist. Politik muss unbedingt sich Sorgen machen oder Analysen anstellen, wenn in der Gesellschaft Ängste wachsen. Was hat das mit der Gesellschaftsentwicklung zu tun? Was hat das mit vielleicht eben offensichtlich auch verfehlter Politik zu tun? Also die Angst ist ein Spiegelbild und eine Herausforderung für gesellschaftliche Probleme. Und deshalb ist Politik gefordert und nicht nur die Seelsorger und die Psychotherapeuten.
    Florin: Sie haben Angela Merkel in einem Aufsatz in der Zeitschrift "Cicero" eine "irrationale, narzisstische Politik" vorgeworfen. Warum?
    Maaz: Na, weil sie eine einsame Entscheidung getroffen hat, die man dann als große humanitäre Leistung gefeiert hat. Also einsam ist deshalb das Problem gewesen, weil weder der Deutsche Bundestag noch die Gemeinden, die Städte gefragt worden sind, die Deutschen schon gar nicht, ob man das will. Es ist versäumt worden praktisch mit der EU, mit Ungarn eine Regelung zu finden. Das wäre eine viel vernünftigere Entscheidung gewesen, also sich hinzusetzen und zu sagen: Wir haben hier ein akutes Problem in Ungarn. Wie wollen wir das gemeinsam lösen? Es ist ein europäisches Problem. Und stattdessen wird so eine Entscheidung getroffen, die – na ja – ich als eine Größenselbst-Entscheidung nehme und dann noch als humanitärer Akt ausgegeben wird. Für mich ist das kein humanitärer Akt. Die Humanität wäre gewesen, wenn man eine wirklich umfassendere Lösung gefunden hätte, die ganz Europa einbezieht und vor allen Dingen aber auch deutlich macht: Wir haben jetzt ein Problem mit der Migration, das ein Symptom ist einer veränderten Weltsituation, die wir angreifen müssen. Stattdessen wird so getan, als könnten wir in Deutschland dieses Riesenproblem lösen. Und das halte ich für eine narzisstische Problematik.
    "Ängste werden diffamiert"
    Florin: Aber, wenn Angela Merkel "irrational" ist Ihrer Meinung nach, ist es denn rational, wenn Politiker den Eindruck erzeugen, Mecklenburg-Vorpommern werde ein Kalifat?
    Maaz: Nein, natürlich nicht. Aber eine solche Formulierung halte ich auch für sehr problematisch, weil damit ein Protest … eben Ängste – ja – diffamiert werden, statt ernst genommen zu werden.
    Florin: Werden sie diffamiert oder einfach nur kritisiert?
    Maaz: Na, auch diffamiert. Wenn das sofort als rechtspopulistisch oder "mit denen reden wir nicht, die nehmen wir nicht ernst" … dann ist das für meine Begriffe Diffamierung. Das hat ja schon bei Pegida angefangen. Wenn führende Politiker von "Pack", von "Mischpoke", von "Rattenfängern" usw. sprechen, dann ist das für mich ein sehr ernstes Symptom einer unreifen politischen Haltung. Statt sich zu fragen: Ja, woher kommt denn der Protest? Was müssen wir verstehen, damit wir in Dialog kommen mit den Menschen? Das wäre basale demokratische Verpflichtung.
    Florin: Herr Gürtler, wie haben Sie denn reagiert, als Ihnen Eltern von Kindergartenkindern signalisiert haben, sie hätten Angst vor Flüchtlingen aus Afghanistan, vor Terrorismus? Vermutlich kam ja auch das Thema Rollder Frau zur Sprache.
    "Angela Merkels Satz hat mich an 1989 erinnert"
    Gürtler: Ich halte von Kommunikation eine ganze Menge und auch von der Kraft, die von den Menschen selbst kommt. Ich bin nicht der Regulator, der sich da hinsetzt und sagt, ich erkläre euch jetzt mal die Welt, wie das richtig ist, und dass ihr keine Angst haben müsst. Die Angst habe ich natürlich ernstgenommen, wahrgenommen. Die ist real gewesen. Aber ich halte viel davon, dass Menschen ins Gespräch kommen und vielleicht auch einer dem anderen dann – ja – auch Grenzen setzt, auch seinen Platz zuweist. Und bei einer Elternversammlung, die wir dann zu dem Thema gemacht haben, kam es genau zu diesem Austausch, dass Eltern dann gegenseitig sich auch sehr deutlich angesprochen haben. Das halte ich auch für etwas, was uns in dieser Zeit fehlt – das direkte Gespräch. Über Wahlen ist das nicht ausreichend, also über Wahlslogans und über Versprechen. Sondern die Menschen müssen direkt im Gespräch sein. Das ist da passiert. Dass es da jetzt nicht sofort eine Lösung gab, war für mich auch klar. Ganz konkret haben sich dann auch Eltern aus unserem Kindergarten, der einen sehr guten Ruf hat, verabschiedet und haben gesagt: Nein, wir möchten nicht mehr unsere Kinder hier betreut wissen. Es gab also auch einen Klärungsprozess der Menschen miteinander. Ich glaube, das fehlt uns zurzeit, so ein Klärungsprozess. Miach übrigens hat – anders als Dr. Maaz – dieser Ausspruch von Angela Merkel "wir schaffen das" sehr an 1989 erinnert und mir hat das gefallen. Und ich glaube nicht, dass sie damit eine Zahl genannt hat, was wir schaffen, aber sie hat für mich ein ermutigendes Wort an die Menschen gesagt und genau das erwarte ich auch von den Politikern, dass sie nicht nur abwägen nach allen Seiten, dass sie unangreifbar sind, sondern dass sie sich auch mal nach vorne wagen.
    Florin: Wie waren die Reaktionen? Sind Sie auch als "linksversiffter Gutmensch" beschimpft worden?
    Gürtler: Das kenne ich auch. Das erkennt man ja auch an den Blicken der Menschen. "Sie machen sich Illusionen. So ist die Welt nicht. Die Welt die ist viel dunkler und da gibt es Probleme, die sollten Sie nicht so negieren." Das habe ich auch ganz konkret mehrfach schon erlebt. Oder: "Eine Demonstration alleine in der Stadt, die bewältigt doch nicht die Probleme." Ja, aber damit kann ich umgehen. Das ist jetzt nicht das, was ich mir wünsche als Gutmensch. Da steht ja in Klammern so ein bisschen: "Na ja, Sie reden so ein bisschen daher. Sie predigen am Sonntag, aber die wirklichen Probleme die sind auf der Straße." Damit kann ich umgehen. Ich war auf der Straße und ich habe 1989 auch erlebt, wie Menschen ein ganzes Land verändern und bewegen können. Also – okay – damit lebe ich.
    "Der Satz ist eine gefährliche Phrase"
    Florin: Herr Maaz, nun sagte Herr Gürtler "wir schaffen das", das ist für ihn ein ermutigender Satz. Wovon hängt das ab, ob jemand diesen Satz als Ermutigung empfindet oder als Zumutung?
    Maaz: Für mich ist dieser Satz eine sehr gefährliche Phrase, eine Suggestion, weil nicht gesagt wird, was geschafft wird, wie etwas geschafft werden kann und wer das schaffen soll. Das heißt, eine so hohle Phrase, die als Beruhigung wirken soll, wirkt offensichtlich bei sehr vielen auch im Gegenteil als Beunruhigung, weil eben keine klare inhaltliche Aussage dabei getroffen wird. Also es wird nicht erklärt, wie im Grunde genommen die globale Situation der Migration, die Probleme der Integration, wie die geschafft werden sollen, was das mit Deutschland macht, was da auf uns zukommt, welche Risiken, welche Veränderungen, welche Gefahren verbunden sind. Wenn das mit diesem Satz verbunden wäre und es klare Aussagen dafür gäbe: Was kostet das, welche Veränderungen stehen uns bevor, welche Gefahren, welche Risiken, wie begegnen wir diesen Gefahren? Dann wäre dieser Satz verantwortlich. Aber so ist er unverantwortlich und hat in meinen Augen sehr dazu geführt, dass eben zum Beispiel solche Parteien wie die AfD gestärkt werden, die jetzt versuchen, diese diese politische Suggestion sozusagen zu kritisieren und konkrete Inhalte zu fordern.
    Gürtler: Ja, natürlich ist der Satz ein kurzer Satz. Das ist völlig klar. "Wir schaffen das" – das ist erst mal eine Phrase, sagt Dr. Maaz. Natürlich, das ist erst mal ein Satz, aber er hat für mich eine Signalwirkung. Das heißt doch: Macht nicht dicht und lasst die Leute nicht draußen. Das erleben wir ja von anderen Ländern, von Ungarn, von Polen, dass das die Politik ist und die Aussage ist. Das ist der Gegensatz zu dem, was wir ringsherum in anderen Ländern erleben. "Wir schaffen das" heißt … der muss natürlich erklärt werden. Heißt: "Guckt euch unser Land an. Wir haben 1989 geschafft. Wir sind ein reiches Land, ein wohlhabendes Land. Und wir haben ein Herz." Ich sage das jetzt mal so platt. "Wir haben ein Herz für Menschen, die aus Kriegsgebieten kommen, denen es furchtbar schlecht geht, die keine Perspektive dort haben." Natürlich ist der Satz sofort erklärungsbedürftig. Da stimme ich Dr. Maaz zu – natürlich. Und das hat sich doch auch in der letzten Zeit gezeigt, dass es da einen Klärungsprozess gab. Die Diskussion um die Obergrenze usw., das muss dann folgen. Aber der Satz hat für mich eine wunderbare Signalwirkung.
    "Der Überbringer schlechter Nachrichten wird getötet"
    Florin: Herr Maaz, fehlt es AfD-Wählern am guten Herzen, am Mitleid, am Mitgefühl für Menschen in Not?
    Maaz: Das weiß ich nicht. So viele AfD-Wähler kenne ich nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass solche psychischen Reifesymptome fehlen oder auch nicht. Also ich habe mit Menschen gesprochen, die sehr ernstzunehmend sind, sehr vernünftig sind, gute Argumente haben. Und ich kenne welche, die halt mit Slogans um sich schlagen, die man nicht hören möchte, weil sie irgendwie absurd sind oder irrational sind. Nein, man darf auch hier nicht pauschalisieren. Das wird ja sonst immer auch gesagt. Also es ist absolut falsch, wenn man die AfD … sagt, das sind Rechtspopulisten. Nein, das ist eine Mischung von vielen Menschen, die noch sehr unterschiedliche Positionen vertreten. Die AfD hat auch noch gar kein richtiges Profil, noch kein gesichertes Programm. Das ist eine Partei, die eben entstanden ist natürlich aus Protest und auf der Suche nach neuen notwendigen politischen Inhalten und – sagen wir mal – einer notwendigen Auseinandersetzung. Also wir sind gut beraten, dass eine solche Partei entsteht, das als einen ernsten und wichtigen Hinweis zu nehmen, dass wir in einer gesellschaftlichen Krise sind, die sich gerade dadurch ausdrückt, dass so eine Partei entsteht. Und die Inhalte, die die Partei auch protestierend hervorbringt, sind meiner Einschätzung nach reale Kritik an Gesellschaftsentwicklung. Darüber sollten wir nachdenken. Das wäre praktisch Inhalt der Kommunikation, die vorhin auch Herr Gürtler als ganz wesentlich in den Mittelpunkt gestellt hat. So sehe ich das auch. Also muss auch mit den Menschen oder einer Partei diskutiert werden und sich inhaltlich auseinandergesetzt werden, die man jetzt im Moment abwertet oder nicht wahrhaben will. Für mich ist die Abwertung, also "mit euch reden wir nicht" oder "ihr seid schlechte Menschen, böse Menschen, Rechtspopulisten" oder so was, das sagt mehr über die Menschen, die diese Kritik aussprechen. Offensichtlich sind sie geängstigt von Inhalten, die sie nicht wahrhaben wollen. So ist unsere Seele eingerichtet, wenn uns etwas trifft, was uns irgendwie beunruhigt, dann neigen wir dazu, den Angreifer, den Kritiker vernichten zu wollen. Wir kennen ja das klassische Drama, dass der Überbringer schlechter Nachrichten getötet wird, statt ihn zu ehren, dass man eine Nachricht bekommt, auf die man sich einstellen muss.
    Florin: Aber, wenn der AfD-Spitzenkandidat in Berlin jetzt sagt: "Was man fühlt, ist auch Realität" - manche sprechen ja schon vom postfaktischen Zeitalter, also vom Zeitalter, in dem Fakten gar nicht mehr zählen - wie soll man dem denn argumentativ begegnen? Wäre es nicht manchmal auch ein guter Weg der Psychotherapie zu sagen: "Leute, eure Ängste sind unbegründet, stellt euch nicht so an"?
    "Fürchte dich nicht"
    Maaz: Nein. Das kann ein Psychotherapeut niemals sagen, weil Ängste immer begründet sind. Also entweder, weil sie reale Probleme machen. Die Angst ist eine Überlebensstrategie unserer Seele. Wenn irgendetwas gefährlich wird, dann erleben wir Angst, um uns zu sichern und zu schützen. Das können äußere reale Probleme sein, aber eben auch oft viele aufgestaute, innere Unsicherheiten, Minderwertigkeiten, Ängste, die mit dem persönlichen Leben zu tun haben. Also Ängste sind immer ernstzunehmend, immer real. Und bei der Formulierung, die Sie jetzt zitiert haben, ist das für mich ein – ja – ein Zeichen für die Problematik und auch der Kulturproblematik unserer Gesellschaft, dass wir das Verhältnis von Ratio und Emotio nicht wirklich gut verstanden haben. Gefühle sind doch nichts Schlechtes. Gefühle sind doch Signale, sind doch Symptome, die etwas aufzeigen, was wir verstehen sollten. Aus meiner Erfahrung als Psychotherapeut weiß ich, dass der Bauch und das Herz – also ich sage mal als Symbole für Gefühle – der Wahrheit häufig sehr viel näher sind als das, was wir uns zurechtdenken. Also mit dem Kopf, mit unserer sogenannten Vernunft können wir uns sehr viel mehr betrügen und was vormachen, als mit dem, was aus unserem Bauch heraus zu fühlen ist. Das ist eine zentrale Arbeit in der Psychotherapie, dass wir Menschen ermutigen, ihre Gefühle wahrzunehmen und verstehen zu lernen und natürlich dann auch entsprechend umzusetzen und zu kontrollieren.
    Florin: Herr Gürtler, in der Bibel kommt 366 Mal die Formulierung vor "Fürchtet euch nicht" (oder Ähnliches) vor, also für jeden Tag einmal und sogar fürs Schaltjahr. Haben Christen weniger Angst?
    Gürtler: Diese Formulierung hängt ja oft auch mit sehr konkreten Situationen, die Angst machen können, zusammen. Diese Formulierung drückt aus, dass da ein Mensch neben mir ist, der mir das sagt: Fürchte dich nicht. Und "Gefühle" heißt ja auch – das hat ja was mit fühlen zu tun – der fasst mich vielleicht sogar an und legt mir seinen Arm um die Schultern und sagt: Fürchte dich doch nicht. Das kann genauso sein, dass ich da keinen realen Anhaltpunkt habe, noch keine Perspektive sehe, die das begründet – fürchte dich nicht – aber es ist einer neben mir, der das sagt. Ohne den geht es ja nicht. Und insofern finde ich schon, haben wir, wenn mir das jemand sagt … darauf kommt es für mich entscheidend an. Wenn mir jemand da an der Seite … mich begleitet, dann haben wir ein kleines Stück gewonnen, uns eben nicht zu fürchten oder nicht so sehr zu fürchten und einen Schritt weiter zu gehen.
    Florin: Herr Maaz, letzte Frage an Sie. Sollten denn nun Politiker auch Seelsorger sein?
    Maaz: Ja, unbedingt. Also zumindest im Sinne von zu verstehen, was Menschen beunruhigt und beängstigt. Zu dem, was Herr Gürtler sagt, würde ich sagen: "Fürchte dich nicht" ist für einen Psychotherapeuten noch kein brauchbares Therapeutikum, sondern ich will erst mal verstehen, was die Furcht auslöst. Und im Verständnis dafür gelingt es häufig dann auch, dass der Mensch seine Furcht überwindet, weil er sich versteht, weil er Mittel und Wege findet, in einer belastenden Situation sich zurechtzufinden. Das wäre für mich die passende Haltung dazu.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.