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Streitkräfte "nicht verzwergen"

Deutschland sei kein Land, das bei seinen Streitkräften so tun könne, als sei es ein Zwerg, kritisiert der ehemalige Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping. Bei der Planung des Verteidigungsetats müsse man außen- und sicherheitspolitischen Überlegung Rechnungen tragen.

Rudolf Scharping im Gespräch mit Gerwald Herter | 07.07.2010
    Gerwald Herter: Jetzt ist er Sportfunktionär, einst war er SPD-Vorsitzender und dann Verteidigungsminister, und zwar zu einem besonders wichtigen Zeitpunkt: während des Kosovo-Krieges. Rudolf Scharping hat sich aus der Politik zurückgezogen, er ist Vorsitzender des Bundes Deutscher Radfahrer, ihm gehört eine Beratungsfirma. Aber zur Strukturreform der Bundeswehr hat er immer noch einziges zu sagen. Über die Wehrpflicht, den Sparzwang der Bundeswehr und seinen Nachfolger, Verteidigungsminister zu Guttenberg (CSU), habe ich mit dem Sozialdemokraten Rudolf Scharping vor der Sendung gesprochen. – Guten Morgen, Herr Scharping.

    Rudolf Scharping: Guten Morgen!

    Herter: Herr Scharping, Sie sagen über den amtierenden Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, er habe viel Potenzial, soll es aber besser nutzen. Wie denn?

    Scharping: Durch Führung, durch klare Vorgaben, am besten solche, die innerhalb der Bundesregierung, insbesondere mit den außen- und sicherheitspolitischen Verantwortlichen, abgestimmt sind, also namentlich mit der Bundeskanzlerin und auch mit dem Bundesaußenminister, denn Deutschland ist kein Land, das bei seinen Streitkräften, bei seinen außen- und sicherheitspolitischen Anstrengungen, bei seiner Wirtschaftskraft und der Größe seiner Bevölkerung so tun kann, als wäre es ein Zwerg. Das sind wir nicht und wir sollten uns auch nicht verzwergen, wie sich das leider andeutet.

    Herter: Muss Deutschland noch in seine Rolle hineinwachsen, bei so vielen Auslandseinsätzen und Kampfeinsätzen der Bundeswehr?

    Scharping: Nein, überhaupt nicht. Aber ich sage Ihnen mal ein Zitat: "Freiheit gibt es nicht zum Nulltarif, sondern nur mit verantwortungsvollem Engagement aller Bürger", und das Zitat geht weiter: "Die Wehrpflicht ist ein Markenzeichen, um die wir international beneidet werden, und ich bekenne mich zur Wehrpflicht". Das war die Rede der Bundeskanzlerin am 20. Juli 2009 zur Vereidigung der Rekruten am Jahrestag des 20. Juli vor dem Reichstag, ist noch kein Jahr her, und ich finde, die Haltbarkeit solcher sehr prinzipiellen politischen Aussagen muss länger sein als 365 Tage.

    Herter: Aber glauben Sie denn, dass Guttenberg die Wehrpflicht tatsächlich abschaffen will, oder ist das ein strategisches Manöver, er zeigt, wenn die Bundeswehr zu wenig Geld bekommt, muss man sie abschaffen, und das will eben keiner und darauf setzt er?

    Scharping: Hoffen wir mal das Zweite, denn seit der Verabschiedung von Eckpunkten zur Reform der Bundeswehr – das liegt genau zehn Jahre zurück -, damals wurde die Bundeswehr ausgeplant nach klaren sicherheitspolitischen Vorstellungen und sie wurde ausgeplant in einem Volumen von etwa 280.000 Köpfen. Das bedeutet, wir müssen zunächst einmal anschauen, hat sich denn die außen- und sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik Deutschland, verglichen mit dem Zeitraum von vor zehn Jahren, verbessert, oder sind die Herausforderungen größer geworden.

    Darf ich daran erinnern, dass wir seither den Terroranschlag in New York hatten, dass wir seither den Beginn des Engagements in Afghanistan und am Horn von Afrika haben, dass wir die Mission im Libanon haben und die Mission im Kongo hatten, und so weiter und so weiter.

    Das heißt, die außen- und sicherheitspolitische Lage der Bundesrepublik Deutschland ist komplizierter, sie ist gleichzeitig herausfordernder, auf keinen Fall ist sie einfacher und leichter geworden. Wer also heute sagt, dass er statt mit 280.000, die damals von der Opposition, also CDU/CSU und teilweise auch von der FDP, als völlig unzureichend, viel zu klein und den Verantwortlichkeiten Deutschlands völlig unangemessen bezeichnet wurden, wenn das damals richtig war und sich die Lage nicht verbessert, sondern in gewisser Weise verkompliziert und auch verschärft hat, dann muss man die Frage stellen: Wodurch ist außen- und sicherheitspolitisch eigentlich gerechtfertigt, dass man heute "Design to Budget" macht, also eine Bundeswehr plant, die einer haushaltspolitischen, einer finanzpolitischen Vorgabe folgt, nicht aber einer außen- und sicherheitspolitischen Überlegung.

    Hier geschieht ein Paradigmenwechsel, der mit den Grundfesten der Außen- und Sicherheitspolitik dieses Landes zu tun hat und der unsere Rolle in der Europäischen Union, innerhalb der NATO und vor allen Dingen auch innerhalb der Vereinten Nationen deutlich abschwächen wird.

    Herter: Punkt, Herr Scharping. – Jetzt frage ich Sie mal: Wird unsere Freiheit immer noch am Hindukusch verteidigt, so wie das ein anderer Nachfolger von Ihnen, Herr Struck, gesagt hat?

    Scharping: Ja. Im Kampf gegen den Terror wird auch unsere Freiheit verteidigt, unsere Vorstellung von der Würde des Menschen, von Rechtstaatlichkeit und von einem friedlichen Zusammenleben. Die wird verteidigt. Die zivilisatorische Herausforderung ist neu hinzugekommen. Sie ist nicht in dem Sinne neu, dass sie erst vor zehn Jahren entstanden wäre, aber sie ist unverändert vorhanden und sie wird auch in den nächsten Jahren sehr kompliziert und sehr herausfordernd bleiben.

    Herter: Bis vor acht Jahren waren Sie Verteidigungsminister. Haben Sie genug für die Zukunftsfähigkeit der Bundeswehr getan?

    Scharping: Ich habe mich auch nicht mit allem durchsetzen können und deswegen habe ich ja auch die Hoffnung, dass der Verteidigungsminister vielleicht eine taktische Erwägung hat und sein ja unbestritten großes Potenzial in die Wagschale wirft und dass ihm dabei andere zur Seite stehen, namentlich die Bundeskanzlerin, der Bundesaußenminister und andere.

    Nein, ich habe auch Niederlagen hinnehmen müssen, gar keine Frage, aber hier geht es nicht um eine beliebige Zahl im Haushalt, hier geht es nicht um 100 Millionen rauf oder runter, hier geht es nicht um ein einzelnes Beschaffungsvorhaben, hier geht es um eine sehr grundsätzliche Weichenstellung und die muss sorgfältig diskutiert werden.

    Es wird ja behauptet, eine Bundeswehr ohne Wehrpflicht sei preiswerter. Da rate ich, die Akten des Planungsstabes des Verteidigungsministeriums sich mal vorlegen zu lassen. Da ist nämlich eine sehr genaue Ermittlung bei allen europäischen Staaten vorgenommen worden, die die Wehrpflicht abgeschafft hatten. Das Ergebnis ist so eindeutig, wie es klar ist: Es wird teuerer. Wer also heute sagt, ich möchte 2011 oder 2012 einige Millionen sparen, der hat vermutlich Recht, aber um den Preis, dass es danach deutlich teuerer wird durch Rekrutierungsorganisation, durch mangelnde Aufwuchsfähigkeit, durch Nachwuchswerbung, durch Laufbahngestaltung. Dann nämlich muss die Bundeswehr komplett, und zwar vom ersten Tag an, gegen Siemens, gegen IBM, gegen andere große Industriebetriebe konkurrieren und da muss sie dann deutlich attraktivere Laufbahnen und deutlich höhere Gehälter bezahlen als zurzeit.

    Herter: Also kurzfristig würde es billiger. Sie haben aber die Furcht und die Sorge, dass die Nachwuchsgewinnung schwieriger würde ohne Wehrpflicht, denn ohne Wehrpflichtige gibt es auch keine freiwillig länger dienenden Wehrpflichtigen mehr.

    Scharping: Und es gibt auch keine Reservisten, die man für die Landesverteidigung, wenn sie denn jemals notwendig werden sollte, ebenso braucht, wie man sie bei internationalen Einsätzen braucht. Schauen Sie sich die Kontingente an; jeder wird sofort sehen: Ohne Reservisten sind auch internationale Einsätze, wie wir sie heute kennen, kaum noch zu bewältigen.

    Herter: Herr Scharping, Sie sagen, Ihr Nachfolger zu Guttenberg habe ein hohes Potenzial, müsse es besser nutzen. Haben Sie Ihr Potenzial richtig genutzt im Rückblick?

    Scharping: Ich habe sicher auch den einen oder anderen Fehler gemacht, aber ich hoffe, dass ich damals die Bundeswehr mit der Schaffung einer neuen Organisation, Streitkräftebasis, der Zusammenfassung also beispielsweise der Logistik, mit deutlich höheren Investitionsausgaben, mit der Bildung einer Division spezielle Operationen, mit einem unabhängigen Sanitätsdienst, mit der klaren Betonung des Prinzips der inneren Führung, mit der Einführung des Gelöbnisses am 20. Juli, sowohl auf der Seite der militärischen Fähigkeiten wie auf der Seite der geistigen Orientierung zukunftsfähig aufgestellt habe, gemeinsam übrigens mit der rot-grünen Koalition.

    Herter: Das war der frühere Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) im Interview mit dem Deutschlandfunk. Wir haben das Gespräch mit ihm aufgezeichnet.