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Stresstest für Versicherungen
Wenn 100 Prozent nicht gut genug sind

Wenn etwas bei 100 Prozent ist, dann gehen die meisten Menschen wohl davon aus, dass das für "tadellos" steht. In der Lebensversicherungsbranche ist das nicht so. Wenn ein Unternehmen da bei der Risikovorsorge etwa für Naturkatastrophen oder Börsencrashs nur auf 100 Prozent kommt, steht es nicht richtig gut da. 350 Unternehmen müssen jetzt offenlegen, wie es um sie steht.

Von Michael Braun | 22.05.2017
    Der Versicherungsschein einer Lebensversicherung.
    Der Versicherungsschein einer Lebensversicherung. Ob das Unternehmen einer Krise standhält, sagt die Solvenzquote. (imago / Rainer Unkel)
    Die Branche bibbert. Bisher musste sie nur der Finanzaufsicht ihre finanzielle Lage erklären. Und dabei hatten sich Risiken gezeigt. Bafin-Präsident Felix Hufeld hatte das so ausgedrückt: "Eine Reihe von Lebensversicherern beaufsichtigen wir besonders – und dafür haben wir gute Gründe."
    Die Gründe sind Zweifel, ob die Versicherungen alle denkbaren Risiken wirklich überleben würden. Das sollen nun auch die Kunden besser beurteilen können. Deshalb müssen alle Versicherungen bis heute, 24 Uhr, zusammen mit vielen anderen Daten die sogenannte "Solvenzquote" melden und veröffentlichen. Sie drückt aus, zu wie viel Prozent ein Unternehmen mit seinem Eigenkapital definierte Risiken eines Stresstests abdecken kann. 100 Prozent heißt also ausreichende Deckung.
    Große Unterschiede bei der Solvenzquote
    "Ausreichend" klingt der Branche nicht gut genug. Sie hat deshalb erlaubte Übergangsregeln genutzt, um aus einer nur ausreichenden Widerstandsfähigkeit eine gute zu machen. So hat Ergo Leben gemeldet, sie schaffe 328 Prozent. Ohne Übergangsregeln wäre sie auf 100 Prozent gekommen. HUK Leben erreichte 282 Prozent, ohne die mildernden Vorschriften wären es 109 Prozent gewesen. Allianz Leben berichtete eine Quote von 379 und einschließlich der Übergangsregeln gar von 660.
    Die Unterschiede sind also riesig. Deutliche Übererfüllung kann auch auf eine Bunkermentalität hindeuten, die im Interesse des Eigenkapitals zu hohe Beiträge fordert oder zu schlechte Leistungen bietet. Lars Heermann, leitender Analyst bei der Ratingagentur Assekurata, ordnet die neue Kennziffer ein:
    "100 ist die Grenze. Die Versicherer müssen schon nachweisen, dass sie auf Dauer über dieser 100-Prozent-Grenze liegen. Es ist ein Indikator, ob ein Lebensversicherer, ob andere Versicherer, Krankenversicherer, Schadenversicherer genügend Kapital haben auf Dauer. Es sagt zum Beispiel überhaupt nichts darüber aus, wie ertragsstark Unternehmen an der Stelle sind. Aber der Verbraucher sollte sich nicht nur daran orientieren."
    Bafin sieht Branche gut gerüstet
    Doch der Bund der Versicherten will die neuen Transparenzmöglichkeiten im Wissen um die Komplexität des Materials gleichwohl nutzen. Vorstandssprecher Axel Kleinlein:
    "Wenn ein Unternehmen bei der Solvenzquote nicht besonders gut dasteht, dann ist das schon ein klarer Hinweis, dass da irgendetwas im Argen liegt. Es ist eben jetzt eine große Chance, dass anhand dieser Solvenzquoten die Unternehmen wirklich verglichen werden können."
    Der Stress, dem die Versicherungen testweise ausgesetzt waren, war heftig. Sie sollten ein Risiko mit Eigenkapital abdecken können, das versicherungsmathematisch nur alle 200 Jahre stattfinden kann. Gedacht ist an solche Schocks, wie es die Finanzkrise 2008/9 war oder auch der Börsencrash zur Jahrtausendwende, Ereignisse, zwischen denen also nicht 200, sondern nur rund zehn Jahre lagen. Dennoch: Es ist ein theoretischer Stress. Deshalb sagt auch der Chef der Versicherungsaufsicht bei der Bafin, Frank Grund, es bleibe "der grundsätzlichen Befund, dass die Branche kurz- und mittelfristig keine lebensbedrohlichen Probleme haben wird."
    Und wenn doch, hat die Branche mit "Protector" eine Auffanggesellschaft eingerichtet, die insolvente Versicherungen abwickelt und dem Versicherten das Gros seiner Ansprüche auszahlt. Die Versicherungsaufsicht Bafin will Anfang Juni ihre Bilanz der neuen Daten veröffentlichen.