Donnerstag, 18. April 2024

Archiv

Strukturschwache Regionen
"Ostdeutschland wird weit mehr Zuwanderung brauchen"

Auch 26 Jahre nach der Deutschen Einheit steht der Osten im Vergleich zum Westen deutlich schlechter da. Das liege vor allem daran, dass die großen Unternehmen im Westen geblieben seien, sagte der Ökonom Joachim Ragnitz im DLF. Er glaube auch nicht, dass sich daran etwas ändere. "Der Zug ist abgefahren." Auch Fremdenfeindlichkeit spiele dabei eine Rolle.

Joachim Ragnitz (Ifo-Institut) im Gespräch mit Sandra Schulz | 01.10.2016
    An einem leerstehenden Haus in Loitz (Mecklenburg-Vorpommern) steht der Schriftzug "Loitz braucht keine Asylanten".
    An einem leerstehenden Haus in Loitz (Mecklenburg-Vorpommern) steht der Schriftzug "Loitz braucht keine Asylanten" (picture alliance / ZB / Stefan Sauer)
    Sandra Schulz: In den kommenden Minuten wollen wir auf die wirtschaftliche Seite der Deutschen Einheit blicken. Am Telefon ist Professor Joachim Ragnitz, Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretender Leiter der Niederlassung Dresden des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Guten Tag!
    Joachim Ragnitz: Ja, schönen guten Tag!
    Schulz: Wirtschaftlich gesehen: Würden Sie davon sprechen, dass Deutschland ein Land ist?
    Ragnitz: Nein, da kann man absolut nicht von ausgehen. Wir sehen bei allen wichtigen Indikatoren der wirtschaftlichen Aktivität, dass der Osten weit hinter dem Westen zurückliegt. Das sieht man bei dem Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, das sieht man bei der Produktivität, das sieht man bei den Arbeitslosenquoten. Jetzt gibt's natürlich auch im Osten ein paar Lichtblicke, auch im Westen gibt's ein paar Regionen, die schlecht dastehen, aber im Großen und Ganzen ist die ehemalige innerdeutsche Grenze auf allen Karten, die man da so zeichnen kann, immer noch deutlich erkennbar.
    Schulz: Was sind die Lichtblicke?
    Ragnitz: Na ja, die Lichtblicke in regionaler Hinsicht sind sicherlich die großen sächsischen Städte, also Dresden und Leipzig vor allem, der Berliner Raum, also das ganze Umland von Berlin, das ist auch Jena, wo sich irgendwie eine Wirtschaft herausgebildet hat, die stark durch technologieintensive Unternehmen geprägt ist, wo teilweise, wie in Leipzig eben auch, die Kreativwirtschaft eine große Rolle spielt, das sind die Lichtblicke da. Aber auf der anderen Seite gibt es dann eben sehr, sehr viele Regionen, wo es zu massiver Abwanderung gekommen ist in den letzten 25, 26 Jahren, wo jetzt einfach schon die ökonomische Basis fehlt, um dort irgendwie einen wirtschaftlichen Aufschwung herbeizuführen. Das sind die Problemfelder, und leider Gottes gibt es davon viel, viel mehr, als es diese Lichtblicke gibt.
    Kaum größere Unternehmen im Osten
    Schulz: Dass die Unterschiede so schroff ausfallen, woran liegt das?
    Ragnitz: Na ja, jetzt kann man sicherlich ganz am Anfang anfangen und sagen, man hat im Vereinigungsprozess irgendwelche Fehler gemacht, aber das macht ja wenig Sinn, da jetzt noch drüber nachzutrauern, was damals falsch gelaufen ist.
    Die derzeitige Situation ist so, dass wir im Osten kaum größere Unternehmen haben, die typischerweise sehr produktiv sind und die auch anspruchsvolle Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Die Hauptsitze von großen Unternehmen sind eben alle im Westen geblieben, also diese Kleinteiligkeit der Wirtschaft spielt eine große Rolle.
    Man sieht zwei Häuser mit Kieswegen; vor einem steht ein Traktor.
    Abwanderung: Im Dorf Wüstemark in Brandenburg leben nur noch 15 Menschen. (Nestor Bachmann / dpa)
    Das zweite große Problem ist eben die Abwanderung, die wir gehabt haben, nämlich dass die gut qualifizierten jüngeren Leute häufig in den Westen gegangen sind, weil sie da entsprechende Arbeitsmarktchancen haben. Wer übrig geblieben ist, das sind halt diejenigen, die typischerweise nicht ganz so innovativ sind, nicht ganz so gut ausgebildet sind, die auch älter sind und dementsprechend gar nicht mal so viele neue Ideen in das Wirtschaftsleben hineinbringen. Und dieser Elitenverlust, wenn man den mal so bezeichnen kann, der wirkt sich eben negativ auch auf die wirtschaftlichen Perspektiven der einzelnen Regionen aus.
    Schulz: Und Sie sehen auch, wenn ich Sie da richtig verstehe, die Entwicklung da jetzt ausgesprochen skeptisch. Man könnte ja sagen, gut, das Land war rund 40 Jahre geteilt, vier Jahrzehnte, jetzt liegt die deutsche Einheit "erst", in Anführungszeichen, 26 Jahre zurück. Es wäre vielleicht auch zu viel verlangt, zu sagen, das muss jetzt sozusagen gleich sein oder wirtschaftlich eine Einheit herrschen, aber Sie sehen diese Entwicklung dahin auch gar nicht, wenn ich Sie richtig verstehe, oder?
    Regionen mit dauerhafter Strukturschwäche
    Ragnitz: Man muss sehen, auch in Westdeutschland gibt es Regionen, die seit 70 Jahren einfach strukturschwach sind und zumindest nicht haben aufholen können. So gesehen ist es, glaube ich, ganz normal, davon auszugehen, dass es in einem Staatsgebiet sehr unterschiedliche Regionen gibt.
    Jetzt ist es im Osten allerdings so, dass halt sehr viele Regionen, unter anderem aufgrund der demografischen Entwicklung, also der Abwanderung, quasi auf so eine schiefe Bahn geraten sind und sehr, sehr große Schwierigkeiten haben, überhaupt noch aufzuholen. Ich mache mir natürlich wenig Sorgen um diese genannten großen Städte, die da relativ gut stehen, die teilweise auch so ein bisschen Ausstrahleffekt in ihr Umland noch leisten können, aber ganz, ganz, ganz viele Regionen sind strukturschwach und werden es aus meiner Sicht eben auch dauerhaft bleiben.
    Schulz: Sehen Sie denn irgendeine Chance, jetzt größere Unternehmen – Sie haben das Gefälle ja gerade zitiert – in die sogenannten neuen Bundesländer zu holen?
    Ragnitz: Ich glaube, der Zug ist abgefahren. Also ich meine, kein Unternehmen, das im Westen etabliert ist, wird seinen Hauptsitz eben nach Ostdeutschland verlagern. Die einzige Chance, die da besteht, ist, dass man halt sagt, na ja, es gibt so ein paar Unternehmen, die derzeit noch klein sind, die aber durchaus in ihren Nischenmärkten Weltmarktführer sind – so was gibt es in Ostdeutschland durchaus häufig –, und dass man versucht, diese Unternehmen dabei zu begleiten, stärker zu wachsen.
    Zwei Arbeiter in Blaumännern hantieren in einer Werkhalle an einer Turbine.
    Industrie im Osten: Der Maschinenbauer Eickhoff in Klipphausen bei Dresden. (imago/Rainer Weisflog)
    Schulz: Was sind das für Unternehmen?
    Ragnitz: Na ja, wenn man so schaut, der Maschinenbau in Chemnitz beispielsweise ist auf diesen Teilmärkten ein Weltmarktführer. Es gibt im Bereich der technischen Textilien, beispielsweise im Vogtland, ganz viele Unternehmen, die bei technischen Textilien, also irgendwie so intelligente Sitzbezüge für Autos oder was da so hergestellt wird, die da eben Weltmarktführer sind.
    Es gibt darüber hinaus sicherlich auch Unternehmen, die zwar im westdeutschen Besitz sind, aber trotzdem sehr stark sind, beispielsweise die Chipproduktion da im Umland von Dresden oder in Dresden selber – das ist im Grunde das einzige europäische Zentrum für die Produktion von Halbleitern. Das sind all solche Kristallisationskerne, um die sich was herausbilden kann. Nur man muss sehen, Unternehmen wachsen typischerweise sehr, sehr langsam, und viele schaffen es eben auch nicht. Das heißt, es besteht durchaus die Chance, dass man eben diese Kleinteiligkeit auch überwinden kann, aber das ist eben ein sehr langwieriger Prozess, und der wird auch nicht überall unbedingt zu großen Erfolgen führen.
    Zuwanderer sind "Gewinn für Gesellschaft"
    Schulz: Und jetzt wird die Fremdenfeindlichkeit immer stärker ja auch als wirtschaftlicher Standortnachteil diskutiert. Wenn es jetzt dieses Gefühl des Abgehängtseins ist, das zumindest ja häufig sicherlich auch mitursächlich ist für die Ablehnung alles Fremden, welchen Ausweg sehen Sie dann aus diesem Teufelskreis?
    Ragnitz: Sie sprechen ein gravierendes Problem an. Auf der einen Seite, glaube ich, hat die Fremdenfeindlichkeit, auch die Wahl von rechtspopulistischen Parteien sicherlich viel damit zu tun, dass man sich irgendwie als Bürger zweiter Klasse fühlt, dass man sich abgehängt fühlt, teilweise auch, dass man Sorge hat, dass all das, was man in den letzten 25 Jahren aufgebaut hat, jetzt plötzlich wieder verloren geht. Das heißt, wirtschaftliche Dinge spielen da tatsächlich eine große Rolle.
    Ein Anhänger der islamfeindlichen Pegida-Bewegung trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Festung Europa macht die Grenzen dicht!
    Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland: Pegida-Kundgebung in Dresden. (dpa / picture alliance / Arno Burgi)
    Letzten Endes muss man aber sehen, angesichts der stark schrumpfenden Bevölkerung in Ostdeutschland wird man hier in Zukunft weit mehr Zuwanderung brauchen, als es in der Vergangenheit der Fall gewesen ist, und da muss man in der Tat dann versuchen, die Leute einfach davon zu überzeugen, dass Zuwanderer ein Gewinn für die Gesellschaft sind, dass die typischerweise Innovationen auch in die Gesellschaft hineinbringen, dass sie Unternehmen gründen können.
    Das heißt, wir haben eine Integrationsaufgabe da, die aber eben zweiseitig ist: Auf der einen Seite, sicherlich muss man dafür sorgen, dass Zuwanderer in die deutsche Gesellschaft integriert werden, aber umgekehrt muss die deutsche Gesellschaft oder hier die ostdeutsche Gesellschaft auch eine viel stärkere Integrations- oder Aufnahmebereitschaft mitbringen, und da muss man in der Tat dran arbeiten, die ist in Ostdeutschland häufig sehr, sehr schwach ausgeprägt.
    Also so gesehen, was die Frau Gleicke oder die Bundesregierung in ihrem Jahresbericht gesagt haben, dass Fremdenfeindlichkeit sich langfristig auch negativ auswirken kann auf die weiteren wirtschaftlichen Perspektiven, dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Da muss man jetzt also wirklich versuchen, daranzugehen.
    Schulz: Professor Joachim Ragnitz, Wirtschaftswissenschaftler und stellvertretender Leiter der Ifo-Niederlassung in Dresden, ganz herzlichen Dank heute Mittag für Ihre Einschätzungen!
    Ragnitz: Ja, vielen Dank auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.