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FES-Studie
Die deutsche Gesellschaft polarisiert sich

Meinungsdiktat von oben, Unterwanderung durch den Islam, verlogenes Establishment oder nationale Rückbesinnung - mehr als ein Viertel der deutschen Bevölkerung stimmt einer Studie zufolge solchen neurechten Einstellungen zu. Besonders die Islamfeindlichkeit sei ausgeprägt. Die Forscher stellen fest: Durch das Land zieht sich ein unüberbrückbarer Spalt.

21.11.2016
    Islamfeindliches Plakat bei einer Pegida-Demonstration in Dresden.
    Islamfeindliches Plakat bei einer Pegida-Demonstration in Dresden. (imago stock&people)
    Mehr als die Hälfte der Deutschen (56 Prozent) sind für die Aufnahme von Flüchtlingen. Gleichzeitig findet ein gutes Drittel (35 Prozent), es werde mehr für sie getan als für bedürftige Deutsche. 38 Prozent wollen eine Obergrenze für Flüchtlinge, 21 Prozent lehnen sie strikt ab. Die Daten der neuen "Mitte-Studie" im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung zeigen auf den ersten Blick eine zerrissene Gesellschaft.
    "Der demokratisch gesinnten Mehrheit Aufmerksamkeit verschaffen"
    "Gespaltene Mitte - Feindselige Zustände" ist das am Montag in Berlin veröffentlichte Buch überschrieben. Die Studie belegt die vielfach bereits diskutierte Polarisierung und auch Radikalisierung, resümiert der Konfliktforscher und Studienautor Andreas Zick. "Es ist ein tiefer Spalt entstanden, der derzeit kaum überbrückbar zu sein scheint", schreiben die Autoren in der Studie.
    "Wir sollten der lauten Minderheit der Fremdenfeinde in den gesellschaftlichen Debatten nicht so viel Raum geben, sondern der demokratisch gesinnten Mehrheit mehr Aufmerksamkeit schenken", sagt Beate Küpper vom Autorenteam der Studie. Und Herausgeber Ralf Melzer von der Friedrich-Ebert-Stiftung ergänzt: "Politische Bildung heißt auch, diejenigen zu unterstützen und zu qualifizieren, die sich für unsere Grundwerte, Mitmenschlichkeit und Vielfalt engagieren."
    Neurechte Einstellungen lösen offenen Rechtsextremismus ab
    Mit 28 Prozent neige mehr als ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland zu sogenannten neurechten Einstellungen, unter den AfD-Wählern seien dies sogar 84 Prozent. Die Neue Rechte transportiert den Studienautoren zufolge über Begriffe wie "Identität" und "Widerstand" eine national-völkische Ideologie. Sie löse damit zunehmend den offenen Rechtsextremismus ab und definiere sich über Verschwörungsmythen wie eine vermeintliche Unterwanderung durch den Islam - einer Behauptung, der 40 Prozent der Bevölkerung zustimmen.
    Zudem wird die Behauptung eines Meinungsdiktats aufgestellt, "Establishment" als illegitim, verlogen und betrügerisch beschimpft. Die Neue Rechte fordere eine Abkehr von der EU und rufe zum Widerstand gegen die aktuelle Politik auf. Nationalistisch-völkische Ideologien würden so in einer subtileren Form und in einem intellektuelleren Gewand transportiert.
    Viele Vorurteile rückläufig - Islamfeindlichkeit ist aber hoch
    Viele Vorurteile - beispielsweise feindselige Einstellungen gegen Wohnungslose, Homosexuelle, Frauen oder Sinti und Roma - seien in Deutschland seit 2002 zwar stabil oder rückläufig. Weit verbreitet sind aber laut Studie muslimfeindliche Einstellungen (19 Prozent), 40 Prozent sehen einen Unterwanderung Deutschlands durch den Islam, die Hälfte der Befragten äußerte zudem Vorurteile gegenüber asylsuchenden Menschen. Fast genauso viele hatten Vorbehalte gegenüber Langzeitarbeitslosen (49 Prozent). Signifikante Abweichungen fielen den Forschern zwischen ost- und westdeutschen Befragten auf: Vorurteile, Fremden- und Muslimfeindlichkeit waren im Osten wesentlich stärker ausgeprägt.
    Der Islam scheint ein größeres Thema als Flüchtlinge zu sein. Denn die Einstellung der Deutschen zur Aufnahme von Flüchtlingen ist positiver als häufig unterstellt. Mehr als die Hälfte der Befragten (56 Prozent) findet die Aufnahme "gut", weitere 24 Prozent "teils-teils". Nur 20 Prozent finden es "eher nicht" oder "überhaupt nicht" gut, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen hat.
    Mitte-Studie

    Die sogenannten Mitte-Studien werden seit 2006 im Zwei-Jahres-Rhythmus im Auftrag der SPD-nahen Stiftung erstellt. Untersucht wird dabei, wie rechtsextreme oder gruppenfeindliche Ansichten in der Mitte der Bevölkerung vertreten sind. Für die aktuelle Untersuchung wurden zwischen Anfang Juni und August dieses Jahres 1.896 repräsentativ ausgewählte Personen ab 16 Jahren befragt. Die komplette Studie wurde auf der Homepage der Stiftung veröffentlicht, ebenso eine Zusammenfassung.
    Deutschland weniger anfällig
    Zu ähnlichen Ergebnissen kommt nach einem Bericht der Zeitung "Die Welt" eine Studie des britischen Instituts YouGov: Sie macht eine Zustimmung von 18 Prozent für rechtspopulistische Einstellungen in Deutschland aus, womit die Bundesrepublik den Angaben zufolge weit weniger anfällig dafür ist als andere europäische Länder. In Polen teilen demnach 78 Prozent rechtspopulistische Einstellungen, in Frankreich 63 und in den Niederlanden 55 Prozent.
    (nch/ach)