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Studie: Interkulturelles Verstehen an Ruhrgebiets-Schulen
Mit Unterschieden gut leben

"Gemeinsam gleich und anders sein" auf diese Formel lässt sich das Ergebnis der empirischen Studie bringen, die das interkulturelle Verstehen in Schulen des Ruhrgebiets erforscht hat.

Von Dörte Hinrichs | 08.09.2016
    Schüler als Experten für interkulturelles Verstehen
    Schülerinnen und Schüler aus aller Welt (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Warum nicht einmal Schüler fragen, wie sie tagtäglich im Schulalltag die kulturellen Unterschiede wahrnehmen? Was kann die Gesellschaft möglicherweise von ihnen im Umgang mit kultureller Differenz lernen? Wo kann sie mehr Interkulturalität wagen? Für diese Fragen interessierten sich Soziologen am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und führten von 2008 bis 2011 eine Analyse von Fremdheitsvorstellungen durch mit 15-18jährigen Schülerinnen.
    "Interkulturelles Verstehen in Schulen des Ruhrgebiets" nennt sich das Forschungsprojekt.

    Schüler sind Experten für interkulturelles Verstehen, dachten sich Prof. Ronald Kurt und Jessica Pahl. Gerade in Schulen des Ruhrgebiets, wo oft mehr als die Hälfte von ihnen einen Migrationshintergrund hat, ist Multikulturalität gelebte Praxis. Vielleicht würden sich hier Problemlösungen für den Umgang mit kultureller Differenz finden lassen. Beteiligt an der Studie waren Schülerinnen und Schüler vom Ricarda-Huch-Gymnasium in Gelsenkirchen, der Frida-Levy-Gesamtschule in Essen und der Ludgerus-Hauptschule in Duisburg. In Einzelinterviews und Gruppendiskussionen, aber auch mit Hilfe von Improvisationstheater wollten die Soziologen den interkulturellen Austausch beobachten und analysieren. Prof. Ronald Kurt:
    "Es war ein Ziel der Studie, dass die Schülerinnen und Schüler selbst ihre Stoffe einbringen und darüber reflektieren und im Improvisationstheater vorstellen. Dann kamen schnell diese klassischen Themen, Rauchen vor dem Vater, ein Kapitel, da spielen die Schüler, wie man damit umgeht, wenn man heimlich als Türkin einen Deutschen zum Freund hat. Und dann wird schon in der Erzählung klar, wie geschickt sie sich da ausdrücken muss, wem sie was erzählen muss, damit die soziale Beziehung zu dem deutschen Freund nicht gefährdet wird: Also sie sagt es nur der Mutter, und das auch nur andeutungsweise, so dass alle ein bisschen um die Ecke denken müssen und sich gegenseitig lassen können, ohne dass es zu direkten Konflikten kommt."
    Grundmotoiv: Konfrontation vermeiden
    Darin zeigte sich ein Grundmotiv im multikulturellen Alltag: Die Schüler der beteiligten Schulen versuchen die Konfrontation zu vermeiden, mit den Eltern genauso wie untereinander. Oft gehen sie sich aus dem Weg, stehen auf dem Schulhof in Türken-Ecken oder Deutschen-Ecken, es gibt aber auch immer wieder Momente der Begegnung.
    "Einmal sind die Schüler, speziell in der Hauptschule, zu einem sehr ironischen Miteinander in der Lage. Also die können sich gegenseitig auf den Arm nehmen und beleidigen sich mit den Fremdwörtern des anderen: Also der "Deutsche" beleidigt den Türken mit türkischen Fremdwörtern, und der türkischstämmige Schüler sagt "Hurensohn" zu dem Deutschen. Aber das ist alles noch ein Zeichen von Zusammengehörigkeit und Sich-Verstehen."
    In der Hauptschule kommunizierten die Schüler eher körperlich miteinander, im Gymnasium eher sprachlich. Das hat das Team um Prof. Ronald Kurt nicht überrascht, aber:
    "Interessanterweise haben wir unseren Vorzeige-Interkulturalisten in der Hauptschule gefunden."
    Der 16jährige hat in der Klasse muslimische Mitschüler, die während des Ramadans fasten. Ein Ritual, das ihm fremd ist, das er aber verstehen lernen wollte:
    "Ich habe da auch mal versucht mitzumachen, da sieht man auch mal, wie schwer das alles ist. Und dass sie sich stark an ihrem Glauben orientieren, da kann man schon den Hut vor ziehen, sag ich mal. Das wirkliche Verständnis dafür, das kommt dann erst beim Mitmachen auf. Also dass man mal mit in die Moschee geht und sich das mal von innen anguckt, wie das gehandhabt ist, auch das Mitfasten. Das fördert wirklich das Verstehen ungemein, dass man wirklich Mitfühlen kann, was die tun."
    Interesse an der fremden Kultur eher die Ausnahme
    Dieses Interesse an der fremden Kultur ist allerdings eher die Ausnahme, haben die Soziologen beobachtet. Auch wissen die Schüler natürlich um die sozial erwünschten Antworten, sie kennen das Multikulti-Ideal, die Kultur der Anderen als Bereicherung zu empfinden – allein die Wirklichkeit sieht anders aus.
    "Der als Ideal vorgeschriebene interkulturelle Diskurs, findet in der Praxis, so wie wir das in dem Projekt gesehen haben, so gut wie gar nicht statt. Sondern da greifen eben andere Praktiken wie Ignorieren, sich gegenüber Differenzen indifferent zeigen, die Goldene Regel anwenden, also wenn du mich in Ruhe lässt, lass ich dich in Ruhe, Vermeidungsstrategien, so dass jeder genug Raum hat, seinen Eigenheiten nachzugehen, ohne dass man sich in seinen Unterschieden zu nahe kommt."
    Ausgewertet wurden 40 lnterviews, in denen die Schüler einen Schultag und auch ihre Erfahrungen mit Multilingualität beschreiben. Es gab vier Gruppendiskussion u.a. zum Thema Liebe und 98 Videokassetten mit Aufzeichnungen von Szenen des Improvisationstheaters.
    "Und das ist das, was uns in dem Forschungsteam überrascht hat, dass es doch eher eine Praxis des Sich-aus-dem-Weg-Gehens, eine Praxis des Sich- Lassens, eine Praxis des Vermeidens von Interkulturalität gibt, die zum Gelingen von einem kulturellen Nebeneinander beigetragen hat."
    Verzweiflung wegen Trennung
    Die Schüler wissen, wie sie den anderen verletzen können und scheinen sich mehrheitlich auf einen Nichtangriffspakt geeinigt zu haben. Ihre unterschiedlichen Meinungen kommen in der Gruppendiskussion, die die Forscher angeregt haben, dennoch klar zum Ausdruck. Grundlage war u.a. ein Text aus einem deutsch-türkischen Internetforum, in dem ein deutsches Mädchen schreibt, wie verzweifelt sie sei, weil ihr türkischer Freud sich von ihr getrennt habe – denn seine Eltern wünschten sich eine türkische Frau für ihren Sohn. "Was würdet ihr diesem Mädchen raten?", fragten die Forscher u.a. die Schüler der Frida-Levy- Gesamtschule in Essen:
    "Wenn die Eltern das sagen und er sie liebt, dann muss er nicht auf seine Eltern hören, sollte er nicht Wenn man heiratet, dann muss die Familie hinter einem stehen, weil sonst hat das überhaupt keinen Sinn, die Familie ist so ein Rückgrat für jemanden, ein Ort, wo man weiß, o.k. denen kann ich jetzt vertrauen. Wenn die Familie sagt, du heiratest nicht mit einer Deutschen, ich würde das schon akzeptieren, weil meine Familie ist mir schon wichtig, die Familie muss schon einverstanden sein Wenn es ums Heiraten geht, dann, ich meine, wenn wir etwas möchten und durchsetzen wollen, dann machen wir alles, dann denken wir gar nicht an die Familie in dem Moment.// Das denk ich mal, Du bist halt so, andere sind halt nicht so."
    Die Schüler wissen um ihre unterschiedlichen, kulturell bedingten Sichtweisen und Rituale - und artikulieren sie auch, z.B. wenn eine Muslima keinen Alkohol trinkt und von ihrem multikulturellen Freundeskreis Akzeptanz für ihre Position einfordert.
    "Da war interessant zu sehen, wie sie sich gegenseitig dulden in ihrem Anderssein und gleichzeitig sich Räume schaffen für ihr eigenes Anderssein. Und da ist es wichtig, dass man keine zu radikale Meinung bildet. Zum Beispiel in den Gruppendiskussionen gab es keinen, der gesagt hat: Deutschland ist nur für Deutsche da! Oder: Der Islam gehört zu Deutschland! Solche Sprüche kamen überhaupt nicht vor."
    Improvisationstheater mit Spaß
    Das Improvisationstheater, das zwei deutsch-türkische Theaterpädagoginnen mit den Schülern realisiert haben, hat ihnen sichtlich Spaß gemacht, wie der Film zeigt. Auch wenn dabei viele Klischees reproduziert wurden, so Prof. Ronald Kurt:
    "Da spielen die Schülerinnen und Schüler eben die Szene, wo eine türkischstämmige Schülerin von ihrem Vater beim Rauchen erwischt wird. Und das wird von deutschstämmigen und von türkischstämmigen Schülern gespielt. Und das ist ganz interessant, wie sie das umsetzen: Also die türkischstämmigen Schülerinnen, die das spielen, die können da so richtig ins Volle gehen, und der Vater kann zürnen und wüten, und die Schülerin verhält sich entsprechend, verdeckt ihr Gesicht, um die antizipierten Schläge abzuwenden. Und wenn dann der deutschstämmige Schüler das probiert, dann weiß er zwar, worum es geht, er kann es aber nicht spielen. Er kann nicht zuschlagen. Also da sind unterschiedliche Erfahrungen in der Sozialisation, die sich dann im Improvisationstheater zeigen. Also unterschiedliche Konzepte von Respekt und Ehre und Würde."
    Nach einem halben Jahr Training haben die Schüler der beteiligten Schulen in Essen gemeinsam einen Theaterabend gestaltet. Auf der Bühne spielen sie mit wechselnden Rollen und Identitäten, verdichten ihre Fremdheitserfahrungen zu Szenen und entwickeln Optionen des Umgangs mit kulturell Anderen in der Gesellschaft. Eine Straßenbahnszene, in der der Dialog zwischen Deutschen und Migranten eskaliert, wird auf Wunsch des Publikums ergänzt um eine gut endende Variante:
    "Warum seid ihr denn so mies gelaunt? Wenn ihr euch alle mögen würdet, wäre das kein Problem, dann hättet ihr auch alle gute Laune. Sollen wir jetzt etwa Gruppenkuscheln machen oder was? Nein. Gute Idee! O.k. Gruppenkuscheln und Happy End."
    Prof. Ronald Kurt sieht im Ergebnis der Studie durchaus Impulse, die interkulturelles Verstehen auch gesamtgesellschaftlich fördern könnten:
    "Und das ist eigentlich eine Haltung, die ich der ganzen Gesellschaft wünsche, dass man einen spielerischen und damit freieren Umgang mit Differenzen suchen kann z.B. in der Form des Improvisationstheaters. Nun leben wir in Zeiten, wo das Spielerische gerade nicht so besonders stark ausgeprägt ist, sondern eher eine Tendenz dazu da ist, Unterschiede sehr ernst zu nehmen. Aber das ist Rückseite der Medaille: Dass man versucht, Differenzen spielerisch anzugehen, um sich selbst in diesen Unterschieden neu zu entdecken und neue Möglichkeiten zu sehen, die das bisherige Leben und die Gewohnheiten, Klischees und Vorurteile, die man hat, ein bisschen produktiv irritieren können."