Donnerstag, 25. April 2024

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Studie
Selbstmord am Kriegsende

Der Historiker Florian Huber hat ein sensibles Thema untersucht: die vielen Suizide in Deutschland in den Tagen und Wochen des Kriegsendes von 1945. Überall in Deutschland schieden Menschen freiwillig aus dem Leben, in Oberbayern war die Zahl der Suizide im April und Mai 1945 zehnmal so hoch wie in den Jahren zuvor. Die größten Selbstmordraten gab es im Nordosten Deutschlands, im heutigen Vorpommern. Hubers Studie greift im Titel ein zeitgenössisches Zitat auf: "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt".

Von Niels Beintker | 16.03.2015
    Blick auf einen Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit (undatiertes Archivbild von 1945).
    Blick auf einen Linienbus im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit (undatiertes Archivbild von 1945). (picture alliance / dpa )
    Noch vor dem Ende des Krieges gingen die ersten Demminer freiwillig in den Tod: Für den 30. April 1945 verzeichneten die Sterbebücher der vorpommerschen Kleinstadt 21 Suizide. Unter den Toten waren ein Haupttruppführer beim Reichsarbeitsdienst, ein Polizist, der Geschäftsführer der Allgemeinen Ortskrankenkasse und ein Tischler, dazu ihre Angehörigen: Ehefrauen, Eltern, Kinder. Die Verzweiflungstaten waren nur der Auftakt zu einer großen Selbstmordwelle, die Florian Huber in seiner Studie über die deutsche Gesellschaft im Frühjahr 1945 dokumentiert:
    "Und als dann tatsächlich die Rote Armee einrückt und nicht weiterkann und dann anfängt, Häuser anzuzünden, zu marodieren und auch zu vergewaltigen - da gibt es dann in dieser Stadt kein Halten mehr. Und dann zieht sich das über drei, vier Tage hinweg, dass da Flüchtlinge, Einwohner in Scharen in die Flüsse springen, sich zusammenbinden, sich ertränken, sich aufhängen. Es ist auch ein Sog, der auch viele Menschen mitreißt, die garantiert niemals an Selbstmord gedacht haben."
    Exakte Zahlen, wie viele Menschen genau im Frühjahr 1945 auf eigenen Wunsch aus dem Leben geschieden sind, gibt es nicht. Ein privates Totenbuch der Tochter des Friedhofgärtners von Demmin dokumentiert über 600 Todesfälle, die Recherchen eines Standesbeamten 927, dazu kommt wohl eine große Dunkelziffer. So oder so eine erschreckend hohe Rate. Und nicht nur in Demmin, auch in vielen anderen Städten im Nordosten Deutschlands, so Florian Huber, gab es ähnliche Tragödien:
    "Also beispielsweise Neustrelitz - da muss man mindestens von 300 Selbstmördern ausgehen. Neubrandenburg - auch hunderte. Friedland, ein ganz kleiner Ort, bisschen südlich von Demmin - fast 500, Teterow auch über 100, Malchin. Also, wo Sie hinschauen, passiert das in Vorpommern, dass sich die Leute in Scharen umbringen, nahezu am gleichen Tag oder in den gleichen Tagen und immer nach dem gleichen Muster. Es ist also wirklich eine richtiggehende Epidemie, wie das einer genannt hat, und das war sicher in sämtlichen östlichen Landesteilen des ‚Dritten Reiches' verbreitet."
    Angst vor der Roten Armee spielte eine Rolle
    Florian Huber erklärt die vielen Selbsttötungen in dieser Region nicht zuletzt mit der Angst vieler Menschen vor der Roten Armee: Viele Einheimische wie auch zahlreiche Flüchtlinge, die dort auf ihrem Weg nach Westen gestrandet waren, hätten diesen Weg gewählt, um möglichen Vergeltungsmaßnahmen russischer Soldaten zu entgehen. Nicht immer ist der Tonfall der Darstellung dabei glücklich geraten - ein Manko dieses Buches. Es hätte - mit Blick auf die komplizierte Geschichte des brutalen Zweiten Weltkriegs - an etlichen Stellen durchaus sensibler geschrieben werden müssen:
    "Die Furcht vor der Roten Armee war so tief in den Köpfen verankert, dass ihr Näherrücken bei vielen tödliche Panikreflexe auslöste. Als die hinter der kämpfenden Front nachrückenden Sowjettruppen in die Städte, Dörfer und Häuser des Ostens einfielen, wurde aus Gerüchten und Propagandafiktionen millionenfach entsetzliche Wirklichkeit."
    Nur eines von mehreren Beispielen. Immerhin benennt Florian Huber immer wieder auch die Kriegsverbrechen der Deutschen in der Sowjetunion. Und glücklicherweise beschränkt sich der Historiker und Journalist bei der Analyse der im Übrigen deutschlandweit verübten Suizide nicht auf ein allzu simples Erklärungsmuster: die große Angst vor der möglichen Gewalt, vor der Rache der Sieger. Vielmehr spannt Huber in einer auf zahlreiche private Tagebücher gestützten Untersuchung einen großen Bogen, von den Massensuiziden im Frühjahr 1945 zurück in die späte Weimarer Republik und zur sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933. Es entsteht dabei eine Art Mentalitätsgeschichte des "Dritten Reiches" - gespiegelt durch die Erinnerungen von deutschen, aber auch ausländischen Beobachtern, von begeisterten Hitlerjungen, skeptischen Publizisten, von Studenten, Soldaten, Angestellten. Ein permanenter Ausnahmezustand, urteilt Florian Huber:
    "Meine Frage war: Wie hat das auf die Leute gewirkt bzw. wie hat das sich angefühlt, in diesem ‚Dritten Reich' zu leben, diese zwölf Jahre mitzumachen? Und was war eigentlich am Schluss, 1945, in den Köpfen der Menschen los? Was war da noch übrig von diesem permanenten Auf und Ab, von den extremen Gefühlen, denen man ausgesetzt war in diesem ‚Dritten Reich'."
    Tagebücher als Quellmaterial
    Eine der vielen Tagebuch-Schreiberinnen in diesen Jahren war Marie Dabs, die Ehefrau eines Pelzhändlers aus Demmin. An ihrem Beispiel wird die Geschichte einer zunehmenden Entfremdung und schließlich einer tiefen Resignation deutlich, beginnend mit dem Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Sowjetunion.
    "Sie fand keine Ruhe mehr. Von dem Fundament, auf dem sie ihr Leben mit viel Mühe aufgebaut hatte, bröckelten Stück für Stück die Wände, sprangen in Risse und kippten eine nach der anderen weg. Ihr Mann, seit Kriegsbeginn Soldat, war aus ihrem Dasein nahezu verschwunden. Als der Vormarsch in die Winterstarre fiel, musste sie ihr Pelzgeschäft leer räumen. Ihre Mäntel und Muffs [...] rollten an die Front."
    Florian Huber: "Sie bleibt dann eben bis zum Schluss und gerät dann tatsächlich auch in diese vier Tage des totalen Infernos in Demmin, zwischen dem 30. April und dem 3. Mai. Und das ist ein besonders eindrucksvoller Moment: Diese Marie Dabs, die garantiert nie daran gedacht hat, sich umzubringen, wird von diesem ganzen Untergangsszenario um sie herum so mitgerissen, dass sie auch anfängt zu fragen, ob nicht jemand noch ein bisschen Gift für sie und ihre Kinder hat. Sie hätte, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, es auch getan. Es scheitert nur daran, dass ihr niemand etwas abgeben will."
    Zusammen mit den Erinnerungen von Maria Dabs und vielen anderen zeitgenössischen Beobachtern ist eine Geschichte des "Dritten Reichs" von unten entstanden. Sie mündet in der Untersuchung der vielen Suizide im Jahr 1945 und im Nachdenken über das beginnende Schweigen in der deutschen Gesellschaft angesichts der im Namen Deutschlands begangenen Verbrechen. Dass die große Zahl der Selbsttötungen dabei in Vergessenheit geriet oder besser: verdrängt wurde, wie Florian Hubers Verlag vollmundig verkündet, entspricht freilich nicht ganz der Wahrheit. Natürlich wurde das Thema zum Tabu, zumal in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Gleichzeitig aber dokumentiert der in Hamburg lebende Historiker und Journalist in seinem Buch etliche Untersuchungen in der Nachkriegszeit und verweist zumindest auf Walter Kempowskis großes "Echolot"-Projekt, in dem dieses Thema auch behandelt wurde. Nichtsdestotrotz ist eine weitere fundierte Auseinandersetzung mit dieser Frage wichtig. Florian Hubers historische Untersuchung ist ein erster Schritt dazu.
    Florian Huber: "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945"
    Berlin Verlag, 304 Seiten 22,99 Euro