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Studie spiegelt nicht die Kitawirklichkeit in Thüringen ab

Die aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung besuchen in Thüringen 96 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen eine Kita. Bei den unter Dreijährigen sind es 45 Prozent. Fachleute sagen, dass nur noch 200 Erzieher fehlen würden, um das Ziel von 2000 Neueinstellungen zu erreichen. Ein Besuch in den Kitas vor Ort sieht aber anders aus.

Von Blanka Weber | 31.07.2012
    Großes Gelächter, denn Paul hat keinen Appetit auf Möhre. Obstmahlzeit ist vermutlich nicht seine Sache. Außerdem soll es gleich zum Spielen in den Park gehen. Seine Kita gehört zu den begehrtesten der Stadt. Es ist eine alte Villa, die seit Jahrzehnten genutzt wird. Zwischen Universität und Altstadt gelegen, direkt am Ilm-Park: Seit fast 40 Jahren arbeitet Birgit Müller hier:

    "Und ich denke mal bei uns im Haus klappt das gut. Die Eltern sind zufrieden. Wir haben immer ein voll belegtes Haus."

    Die Anfragen sind hoch. Die Plätze knapp. Wer nach Weimar ziehen und bei ihr einen Kitaplatz haben möchte - hat derzeit keine Chance:

    "Also ich hab für dieses Jahr, ab September bestimmt noch 25 Kinder auf der Warteliste. Und 2013/14 gibt's bei uns im Haus keine freien Kapazitäten mehr."

    Besonders schlecht sieht es für Ein- bis Zweijährige aus. Kitaanspruch ab dem ersten Lebensjahr ist aus Sicht der Eltern wünschenswert, doch die meisten Gebäude müssten dafür umgebaut werden. Birgit Müller schüttelt den Kopf, weil die nachgefragten Plätze erst geschaffen werden müssen. Kompromisse gibt es auch beim Personal:

    "Also wir haben im Moment bei den Kindern von vier bis sechs Jahren sind es 17 Kinder und ein Erzieher und bei den kleineren haben wir acht Kinder mit zwei Erziehern."

    Die Empfehlung der Bertelsmann Stiftung liegt da etwas anders: Ein Erzieher für drei Kleinkinder und bei den größeren sollte sich ein Erzieher um sieben bis acht Kinder kümmern dürfen.

    Im Ländermonitor gab es ein deutliches Minus für Thüringen.

    Zweites Beispiel: Isserstedt, eine kleine Gemeinde, flankiert von einem Gewerbegebiet, zwischen Erfurt und Weimar gelegen. Hier gibt es die Kita Rappelkiste - Träger ist die Gemeinde. Vermutlich aber nicht mehr lange, derzeit wird ein Träger gesucht, sagt die Leiterin Vorkäufer. Auch hier ist die Warteliste lang, gerade hat sie acht Absagen verschickt. Mütter würden so früh wie möglich um einen Platz kämpfen:

    "Hier kommen die Mamas schon im dritten oder vierten Monat, haben noch nicht mal einen Namen für das Kind, wissen noch nicht mal einen Geburtstermin und wollen am besten schon die Anmeldung mitnehmen."

    Vielleicht gibt es bald einen Kitaneubau. Die Zeit drängt:

    "Wenn der Neubau geschafft wird im nächsten Jahr zu stehen, dann könnte ich den Bedarf an Anfragen auch decken."

    Und vielleicht auch mehr Personal einstellen. Derzeit gibt es vier Erzieherinnen und die Leiterin für Kitaöffnungszeiten von sechs bis 17 Uhr. Der Personalschlüssel sieht bei insgesamt 33 Kindern hier deutlich besser aus, doch nur auf den ersten Blick:

    "Optimal wäre es, wenn immer zwei Erzieher gleichzeitig da sind, können wir aber so nicht abdecken, weil wir momentan Teilzeit arbeiten."

    Das heißt, die Mitarbeiterinnen würden gerne mehr arbeiten, die Verträge sehen es aber nicht vor. Auch nicht bei der Chefin. Wenn dann Personal durch Urlaub und Krankheit ausfällt, wird es eng, sagt die junge Leiterin ratlos.

    Und noch eine bittere Erkenntnis der Praxis: Wer jahrelang studiert und den Abschluss als Diplom-Sozialpädagogin hat, ist zwar bestens ausgebildet, wird aber - wie in vielen Fällen - nur als Erzieherin bezahlt, also deutlich schlechter.

    Wenn die Politik vom Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz spricht, muss man doch deutlich differenzieren, sagt Dirk Gersdorf von der AWO, der Arbeiterwohlfahrt Thüringen. Wer in den Städten sucht, hat schlechte Karten:

    "Da sind auch Planungen anders gelaufen, was Platzkapazitäten betrifft, was Einrichtungen betrifft und sicherlich auch, was Personalpolitik betrifft. Und das ist das, was uns in den Thüringer Großstädten auf die Füße fällt. Das heißt, wir haben mehr Kinder, als wir Plätze haben."

    Beim Kindergarten "An der schmalen Gera" - einem kleinen Flüsschen, das sich durch die Erfurter Innenstadt schlängelt, ist das nicht anders.

    Wenn alle Erzieher da sind, schaffen wir die Arbeit gut - sagt Andrea Scheidt, die Leiterin. Auch hier Teilzeit- und Vollzeitkräfte und vor allem eine riesige Nachfrage:

    "Sehr groß und wir sind bis zum Schuljahr 2014/15 schon voll."

    Zwar reagieren Kommunen und Politik auf den Platzbedarf, haben auch Bundesmittel dafür - doch es geht nicht so schnell, wie es müsste. Und selbst wenn es mehr Gebäude geben würde, bliebe die Frage nach dem Personal? Etwa 180 Erzieher werden derzeit in Thüringen gesucht.

    Oder - so sagen Experten - die Teilzeitkräfte erhalten einfach mehr Stunden. Das funktioniere leider nicht so einfach, sagt Dirk Gersdorf von der AWO:

    "Da muss man sagen, klafft Theorie und Praxis auseinander. Die Bertelsmann Stiftung kann das zwar sehr schön belegen, wenn man die alle auf Vollzeit setzen würde, ist das Problem gelöst. In der Praxis ist es so, dass wir unsere Erzieherinnen angefleht haben in Vollzeit zu arbeiten, die Kolleginnen aber einfach nicht wollen."

    Hinzu käme die Frage der Entlohnung. Auch hier klaffen Wunsch und Wirklichkeit auseinander. Im Osten sind die Kita-Beiträge niedrig, doch die Erzieher werden auch schlechter bezahlt, sagt etwas ratlos der Mitarbeiter eines Trägervereins. Er könne verstehen, wenn gerade junge Frauen ihre Tasche packen. Und hofft es dennoch nicht für die beiden Erzieherinnen einer Erfurter Kita, die täglich Englisch mit den Kindern reden und damit eine Marktlücke für zweisprachige Familien und ausländische Gäste geschlossen haben.