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Studie
Wissenschaftler fordern Überprüfung der Pestizid-Zulassung

Neonicotinoide, Fipronil, Glyphosat - die Kritik am Pestizideinsatz hält an. Umweltwissenschaftler haben nun die Zulassung, Überwachung und Anwendung der Substanzen untersucht - mit dem Ergebnis: Die Labortests spiegeln die Wirklichkeit nur unzureichend wider - mit dramatischen Folgen.

Von Joachim Budde | 23.05.2018
    Ein Landwirt fährt mit einer Dünger- und Pestizidspritze am 18.05.2015 über ein Feld mit jungem Getreide nahe Neuranft im Oderbruch (Brandenburg). Foto: Patrick Pleul/dpa
    Es gibt erste Studien, die darauf hindeuten, dass Landwirte auf große Mengen Pestizide verzichten können, ohne Ertragseinbußen zu erleiden. (dpa)
    "Die konventionelle Pflanzenschutzpraxis hat einen Punkt erreicht, an dem wichtige Ökosystemfunktionen und Lebensgrundlagen ernsthaft in Gefahr sind."
    Mit diesen Worten fassen die Autoren einer Studie über den Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft für die Leopoldina ihre Ergebnisse zusammen. Die Umweltwissenschaftler sehen einigen Nachholbedarf, zum Beispiel bei der Zulassung:
    "Die Tests auf Umweltverträglichkeit spiegeln die Wirklichkeit nur schlecht wider", sagt Professor Andreas Schäffer von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen.
    280 Wirkstoffe, die sich noch gegenseitig beeinflussen können
    Ein großes Manko: Die Prüfung betrachte immer nur einzelne Mittel.
    "In der Praxis sieht es aber ganz anders aus. In der Praxis werden viele Kulturen mehrfach behandelt. In einigen Kulturen wie zum Beispiel Apfelkulturen im Durchschnitt zwanzig Mal pro Saison. Also sagen wir mal zwischen März und September fährt der Landwirt zwanzig Mal mit einem oder sogar mehreren Produkten über das Feld und appliziert das."
    Bevor das eine Mittel vollständig abgebaut ist, kommt also schon ein zweites oder drittes oder noch mehr hinzu. Für chemischen Pflanzenschutz sind in Deutschland rund 280 Wirkstoffe zugelassen. Es sind also viele Kombinationen der Stoffe möglich und damit Potenzial, dass sie sich gegenseitig beeinflussen und in ihrer Wirkung verstärken.
    "Das wird bisher eben sehr, sehr wenig untersucht und im Zulassungsverfahren eben nicht berücksichtigt. Da gibt es also auf jeden Fall zahlreiche Hinweise, dass das Vorhandensein mehrerer Wirkstoffe Einflüsse hat, auch auf Organismen hat. Das ist ganz klar."
    Fehlerhafte Angaben über den Pestizid-Abbau
    Inzwischen habe sich auch gezeigt, dass die Annahmen über den Abbau vieler Pestizide im Boden und in Gewässern falsch sind: Eine aktuelle Studie aus der Schweiz hat zum Beispiel gezeigt, dass von achtzig Pestiziden, die zwischen 1995 und 2008 auf Feldern ausgebracht wurden, 80 Prozent noch immer nachweisbar sind. Ein anderes Beispiel: Das Pestizid Atrazin ist seit gut 25 Jahren in Deutschland verboten. Aber noch immer finden sich aber Rückstände des Mittels im Grundwasser.
    "Die sollten eigentlich alle mehr oder weniger weg sein, aber sie sind einfach noch da."
    Ein dritter wichtiger Punkt: Indirekte Effekte von Pestiziden - Glyphosat zum Beispiel - töten zwar Wildkräuter und keine Insekten. Den Tieren fehlt dann aber die Nahrung - ein Effekt, der sich durch die gesamte Nahrungskette fortsetzen kann.
    Indirekte Effekte von Pestiziden
    Noch ein Beispiel: Unkrautvernichtungsmittel treffen auch Wildpflanzen auf Feldrainen oder an den Ufersäumen von Gewässern, in die Pestizide mit dem Regen gespült werden. Es gibt Tests, die untersuchten, wie schnell solche Pflanzen sich nach Kontakt mit einem Pestizid wieder erholen. Doch sie vernachlässigen die Konkurrenz in der Natur: Im Labor kann eine Pflanze auf eine mit Pestizid behandelte Fläche zurückkehren. In Wirklichkeit sieht das anders aus, sagt Dr. Martina Roß-Nickoll. Die Aachener Ökologin hat indirekte Effekte von Pestiziden untersucht.
    "Die kommen dann nicht wieder zurück, weil ihr Platz von anderen Pflanzen eingenommen worden ist, das heißt, wenn da Konkurrenz wirkt, ist im Grunde genommen diese Grundannahme, dass das System wieder erholbar ist, eigentlich gar nicht gegeben. Und das kann man in der Landschaft auch beobachten."
    Andreas Schäffer fordert deshalb zum Beispiel, die Voraussetzungen für die Zulassung zu überarbeiten und auch nach der Zulassung stärker zu überprüfen, ob die Mittel sich tatsächlich so verhalten, wie die Labortests es nahegelegt haben.
    Verzicht auf Pestizide möglich ohne Ertragseinbußen
    Vielfach sind auch die Landwirte gefragt. Es gibt erste Studien, die darauf hindeuten, dass sie auf große Mengen Pestizide verzichten können, ohne Ertragseinbußen zu erleiden. Allerdings wolle sie die Landwirte nicht pauschal an den Pranger stellen, sagt Martina Roß-Nickoll.
    "Die stehen selber unter einem enormen Druck, die Mittel sind immer effizienter geworden, die Intensivierung ist immer stärker geworden, und die tun, was sie können, aber im Grunde genommen müssen sie Anreize bekommen, Ausgleichszahlungen bekommen, also das was im Grunde schon auch im Moment passiert, aber das muss weiter ausgebaut werden."
    Dazu biete sich jetzt die Gelegenheit. Schließlich werden die Rahmenbedingungen für die Agrarpolitik auf europäischer Ebene gerade neu verhandelt.