Samstag, 20. April 2024

Archiv

Studie zu den Protestbewegungen seit 1945
Die Deutschen im Widerstand

Damit Protest in der Breite wirksam wird, müssen die Menschen auch im Internetzeitalter auf die Straße gehen: Zu diesem Ergebnis kommt der Historiker Professor Philipp Gassert vom Institut für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim.

Von Dörte Hinrichs und Hans Rubinich | 19.04.2018
    Frauentags-Demonstration in Berlin - die Proteste richteten sich gegen Sexismus und Geschlechterdiskriminierung. Auf einem Schild steht "Gleiche Rechte für alle", Demonstrantinnen rufen etwas mit erhobenem Arm
    Frauentags-Demonstration in Berlin - die Proteste richteten sich gegen Sexismus und Geschlechterdiskriminierung (imago/Christian Mang)
    Im Mai erscheint seine erste umfassende Untersuchung der deutschen Protestbewegungen seit 1945: Von den Protesten während der Besatzungszeit über den Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, die 68er-Studentenproteste, Stuttgart 21 bis hin zu Pegida. Das Besondere am Protest der Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten der 80er-Jahre ist, dass er erstmals von breiten Bevölkerungsschichten getragen wird. Die Angst vor der atomaren Vernichtung hat Hunderttausende auf die Straße getrieben, davon berichten zum Beispiel ehemalige Aktivisten, die in Mutlangen gegen die Stationierung amerikanischer Atomraketen protestiert haben.

    Proteste der 1980er-Jahre gegen die Nachrüstung
    "Man hatte echt Angst, dass es zu einem Weltkrieg oder jedenfalls zu einer Massenvernichtung kommen konnte, wenn eine Atombombe fällt; dass ganze Landstriche dann unbewohnbar sein würden."
    Helmut Kramer, Teilnehmer der Richterblockade gegen die Stationierung amerikanischer Atomwaffen 1987 in Mutlangen
    "Wir leben in einer Demokratie. Wir haben das Recht, unsere Meinung kund zu tun. Aber es wird auch irgendwie ignoriert. Und dann war ziemlich schnell klar: In Mutlangen formiert sich die Friedensbewegung. Und dann war klar, dass ich da hin will."
    Eva Eggelsmann, Friedensaktivistin
    "Die Leute gehen nicht einfach so auf die Straße. Die setzen sich nicht einfach mal so in Mutlangen vor ein Depot, sondern es muss eine Frage in der Gesellschaft unentschieden und strittig sein. Und darin sehe ich auch die wichtigste Funktion von Protest. Dass er Dinge artikuliert, die von den politischen Repräsentanten in der Art und Weise im Parlament und in den gewählten Institutionen nicht vertreten werden. Also Protest macht immer auf Defizite der gesellschaftlichen Debatte, über große Probleme und Fragen, die uns alle beschäftigen, aufmerksam."
    Prof. Philipp Gassert, Historiker und Protestforscher
    Es sind der Vietnam-Krieg, die Polizeigewalt bei den Protesten gegen den Besuch des Schahs aus Persien 1967 in Berlin und der Tod von Benno Ohnesorg über die sich die Studenten vor über 50 Jahren empören. Und sie protestieren gegen die demokratischen Defizite und die nationalsozialistische Vergangenheit ihrer Hochschullehrer mit dem "Muff von 1000 Jahren unter den Talaren". Schon vor 20 Jahren hat sich der Historiker Professor Philipp Gassert vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Mannheim mit der 68er-Protestbewegung in globaler Perspektive beschäftigt - und seitdem seinen Protestforschungshorizont ausgedehnt: Er reicht von den Protesten der Besatzungszeit und frühen BRD über den Aufstand 1953 in der DDR, der Friedensbewegung der 80er-Jahre, den Leipziger Montagsdemonstrationen, den Protesten gegen Stuttgart 21 bis zu rechtspopulistischen Protestbewegungen wie Pegida. Eines haben alle Bewegungen gemeinsam: Menschen gehen auf die Straße - auch wenn heute jeder schneller seinen Protest via Internet kundtun und sich mit Gleichgesinnten verbünden kann.
    Wirksamer Protest braucht die Straße
    "Occupy ist in diesem Zusammenhang interessant, weil es ja aus den sozialen Medien hervor gegangen ist. Aber auch Occupy Wall Street wurde erst ein Faktor in dem Moment, wo der Zuccotti Park besetzt war. Vorher war Adbusters Media Foundation einfach eine konsumkritische, globalisierungskritische Veranstaltung im Internet. In dem Moment, wo die Leute unterwegs sind, haben sie auch die etablierten Medien, halten die Kameras drauf, halten die Mikrofone hin. Dann kann das natürlich über Twitter oder Youtube oder was auch immer weiterverbreitet werden. Aber Sie brauchen dieses inszenatorische Potenzial menschlicher Körper auf der Straße damit Protest in der Breite wirksam wird."
    Mitte September bis Mitte November 2011 besetzt die US-amerikanische Occupy-Bewegung den New Yorker Zuccotti Park gegenüber der Wall Street. Die amerikanische Börse ist ihrer Meinung nach mitverantwortlich für die bis dahin größte Finanzkrise. Auch in Deutschland gibt es bald einen Occupy Ableger mit Demonstrationen in verschiedenen Großstädten, die in der einjährigen Besetzung des Platzes vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main gipfeln.
    Heute ist Occupy aus den Schlagzeilen verschwunden. Gassert beleuchtet nicht nur die veränderten Organisationsformen und Foren von Protestbewegungen, sondern auch in der Forschung bisher weitgehend vernachlässigte Proteste. So erinnert er beispielsweise an die massive Protestwelle während der Besatzungszeit ab 1945.
    Weitgehend vergessene Proteste in der Besatzungszeit
    "Als es gegen Alliierte und Besatzer ging, um Hunger Not. Demontagen waren ein großes Thema, große Mobilisierung in der Besatzungszeit. Völlig vergessen ist, dass wir so eine aktive protestlerische Szene in der Besatzungszeit hatten und auch noch in den 50er-Jahren, die sich oft gegen die Alliierten gerichtet hat und die sich übrigens damals auch schon gegen Ausländer gerichtet hat. Die Ausländer waren teilweise die deutschstämmigen Flüchtlinge aus Osteuropa, aber es waren teilweise auch die sogenannten displaced persons. Heimatlose Ausländer also, ehemalige Überlebende der Konzentrationslager oder ehemalige Kriegsgefangene, die auch sehr viel negative Publizität und Ablehnung in der deutschen Gesellschaft auf sich gezogen haben in den ersten Nachkriegsjahren."
    Doch wer ging früher, wer geht heute auf die Straße, um zu protestieren? Sozialdemokraten und Gewerkschafter haben eine lange Protesttradition, 1968 kam mit den Studentenprotesten das universitäre, bürgerliche, überwiegend männlich geprägte Milieu dazu, dann in den 1970er-Jahren die Frauen, die gegen männliche Gewalt, für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung auf die Straße gingen, schließlich das alternative Milieu der Anti-Atomkraft-Bewegung. Das prägende Kapitel jüngerer deutscher Protestgeschichte allerdings, das sieht Gassert in der Friedensbewegung der 1980er-Jahre, in Ost wie in West, denn sie vereinte erstmals Menschen aus allen Schichten.
    Protest wird normal
    "Sie finden auch Leute aus kirchlichen Kreisen, christlichen Jugendbewegungen. Sie finden bürgerliche Menschen, sie finden Etablierte, sie finden Ältere, sind finden Familien mit Kindern. Und deswegen ist für mich die Friedensbewegung der Punkt, wo sich Protest normalisiert hat - ein Stück weit alltäglich geworden ist in unserer politischen Kultur. Und was in den 80er-Jahren passiert, ist ganz wichtig im Vorlauf zu der Wiedervereinigung 1989/90, weil in den 80er-Jahren finden kirchliche Aktivisten und Kritiker der Militarisierung der DDR zusammen mit links sozialistischen Kritikern des SED-Staates. Robert Havemann und Rainer Eppelmann verfassen dann gemeinsam Anfang der 1980er-Jahre ein Papier, in dem übrigens auch die Wiedervereinigung als Vision auftaucht."
    Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg und ein Wandel des weltpolitischen Klimas erforderlich. Erst muss ein Reformer wie Gorbatschow in der UdSSR an die Macht kommen und Glasnost und Perestroica, Offenheit und Umgestaltung, zulassen – auch in den Satellitenstaaten. So können sich die Leipziger Montagsdemonstrationen ab Herbst 1989 ausweiten, gehen schließlich Hunderttausende in der ganzen DDR auf die Straße für Reisefreiheit statt Massenflucht, für Reformen und ein Ende der 40-jährigen SED-Herrschaft, ohne dass das Militär einschreitet.
    Ganz anders als beim Aufstand vom 17. Juni 1953, wo Arbeiter und Bauern streiken und gegen die verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen in der DDR demonstrieren - bis die Sowjetarmee den Protest blutig beendet. 1989 mündet die DDR-Protestbewegung schließlich in eine friedliche Revolution.
    "Etwa 70.000 Menschen zogen durch die Stadt, immer wieder war der Ruf zu hören "Wir sind das Volk".
    Die Bürgerbewegung der DDR als erfolgreichster Protest seit 1945
    Die Friedensbewegung der 80er-Jahre ist ein wichtiger Wegbereiter für die Wiedervereinigung und beginnt in der Bundesrepublik und der DDR mit dem Widerstand gegen das atomare Wettrüsten zwischen der USA und der UdSSR. Im Dezember 1979 verabschieden die Außen- und Verteidigungsminister des Nordatlantikpaktes in Brüssel den Nato-Doppelbeschluss. Er sieht Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion vor, aber auch die Drohung, nukleare Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in Europa zu stationieren, falls die Sowjetunion nicht innerhalb von vier Jahren ihr Arsenal an SS-20-Raketen verringert.
    Die Menschen in Deutschland und in Westeuropa gehen auf die Straße. 1981 demonstrieren in Bonn rund 300.000 Menschen, im Oktober 1983 protestieren 1,3 Millionen Menschen gleichzeitig in Bonn, Berlin, Hamburg, Stuttgart und Ulm. Es kommt zu Sitzblockaden vor verschiedenen Atomwaffenstandorten, unter anderem in Mutlangen. In der kleinen schwäbischen Gemeinde sollen amerikanische Pershing- II- Raketen stationiert werden. Das löst bei vielen Menschen Ängste und heftigen Widerstand aus – auch bei der damals 17-jährigen Schülerin Eva Eggelsmann aus Bayern:
    "Wenn man von etwas überzeugt ist und wenn eine tatsächliche Gefahr da ist, dann ist das auch ein bestimmter Ausnahmezustand, wo auch Entscheidungen gefällt werden müssen. Wo das Private erst mal in den Hintergrund gerät. Man wusste ja gar nicht, wie lange bleibt denn die Erde noch bestehen? Es war auch eigentlich Unsinn zu denken: Was mache ich jetzt für eine Ausbildung?"
    Heute ist Eva Eggelsmann 52 Jahre alt, Landwirtin und Heilerziehungspflegerin sowie Mutter von zwei Kindern. Sie erinnert sich noch gut an ihre Zeit in Mutlangen, an die Anfänge ihres Protestes 1983.
    "Und dann bin ich mit erwachsenen Bekannten, gar nicht mal Jugendgruppe, zu dieser Menschenkette gefahren, kurz vor der Stationierung im Herbst. Einerseits war es ein tolles Erlebnis. Die Züge waren rappelvoll. Und es war tatsächlich, dass über eine Million Menschen da sich versammelt hatten."
    Unter den Protestierenden gegen den Nato-Doppelbeschluss im "heißen Herbst 1983" sind unter anderem Petra Kelly und Oscar Lafontaine, zahlreiche Prominente engagieren sich in Mutlangen. Auch der Schriftsteller Heinrich Böll, erklärt seine Teilnahme an der Demonstration:
    "Um als Bürger der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck zu bringen, dass ich die geplante Aufstellung der Raketen für eine Verringerung unserer Sicherheit halte, nicht für eine Erhöhung."
    Diese prominenten Unterstützer sorgen dafür, dass Mutlangen in den Medien präsent bleibt. "Frieden schaffen ohne Waffen" ist das Credo der bundesdeutschen Friedensbewegung, doch sie kann trotz aller Demonstrationen und Sitzblockaden die Stationierung der Atomraketen 1983 nicht verhindern. In dieser Zeit ist auch in der DDR die Friedensbewegung aktiv. "Schwerter zu Pflugscharen" lautet ihr Slogan. Am 24. September 1983, beim Kirchentag in Wittenberg, kommt es zu einer spektakulären Aktion, initiiert von Friederich Schorlemmer, damals Dozent am Evangelischen Predigerseminar: Über 2.000 Menschen finden sich im Lutherhof im Zentrum der Stadt ein, wo ein Amboss steht, das Feuer lodert und ein Kunstschmied ein selbstgefertigtes Schwert zu einer Pflugschar umschmiedet.
    "Es gab auch viele Schüler, die diesen Aufnäher dann auf ihren Parka aufgenäht haben. Und die SED wusste sich nicht anders zu helfen als dieses Symbol, dieses Friedenssymbol zu verbieten."
    So der Mannheimer Historiker Philipp Gassert. Die Protestaktionen der Friedensbewegung durchziehen die 80er-Jahre in Ost- und Westdeutschland: In Mutlangen beteiligt sich Eva Eggelsmann auch nach der Stationierung der US-Raketen noch mit einigen Mitstreitern vier Jahre lang an Mahnwachen. 1987 kommt es dort zum öffentlichkeitswirksamen Protest einer Gruppe, von der man wohl am wenigsten erwartet hätte, dass sie sich derart engagieren würde:
    Novum in der deutschen Geschichte: Richerblockade in Mutlangen
    "Dieses Lied ist für die Richter, die
    sich vor Raketen bei Eis und Schnee
    auf die Straße setzten und sie
    blockierten. Das gab es noch nie!
    (Franz-Josef Degenhardt)
    "Es war einfach so, wir haben natürlich unsere Aufgabe und unsere Funktion gesehen", sagt der heute 87-jährige ehemalige Richter Dr. Helmut Kramer aus Wolfenbüttel. Er ist einer der 20 Richter, die sich am 17. Januar 1987 an der Sitzblockade vor dem amerikanischen Atomwaffendepot in Mutlangen beteiligen. Es ist ein Novum in der deutschen Protestgeschichte, dass höchste Staatsdiener auf diese Weise ihren Widerstand demonstrieren – ungeachtet der möglichen beruflichen Konsequenzen:
    "Jemand wie ich und die meisten von diesen 20, die wussten inzwischen, so schlimm kann es nicht werden. Also 10 Prozent oder bis höchstens 20 Prozent Kürzung des Gehalts. Eins war natürlich klar: E de Ka, Ende der Karriere. Man wird nicht mehr befördert."
    Protest spitzt gesellschaftliche Defizite zu
    Führende Politiker fordern die Entlassung der Beteiligten, über 500 Richter und Staatsanwälte solidarisieren sich mit ihnen. Am Ende erhalten Helmut Kramer und seine Richterkollegen Geldstrafen wegen Nötigung. Auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich mit dem Fall. Es kommt zum "Blockade"-Urteil, danach sind Sitzblockaden nicht immer strafbar. Ab 1990 werden die amerikanischen Mittelstreckenraketen aus Mutlangen und anderen deutschen Standorten abgezogen. Ihre Stationierung konnte die Friedensbewegung nicht verhindern, dennoch sind diese und auch andere Protestbewegungen in Deutschland nicht ohne Wirkung geblieben. Heute gibt es zum Beispiel Diskussionen um die Begrenzung der Flüchtlingszahlen, reagiert die Politik auf gesellschaftliche Entwicklungen, verändern sich auch die Haltungen etablierter Parteien durch Proteste:
    "Das Interessante ist doch, wie die Institutionen auf die Straße reagieren. Das Establishment hat eine wichtige Rolle bei Protestbewegungen und zwar in dem es dazu gezwungen wird, seine Position zu verteidigen. Seine politischen Aussagen zu schärfen, klarzumachen worum es geht. Protest ist eine Form der politischen Kommunikation und Protest spitzt Defizite in der Gesellschaft brachial zu. Oft auf eine Art von schwarz-weiss, die nicht politisch anwendbar ist. Aber genau dadurch werden wir jetzt gezwungen zu sagen: Okay wir müssen ein Einwanderungsgesetz machen. Wir sind ein Einwanderungsland. Und auch diejenigen in der CDU, die vor 30 oder 40 Jahren das nie behauptet hätten, dass wir ein Einwanderungsland sind, sagen es inzwischen."
    Auch wenn es weiterhin Menschen gibt, die das Gegenteil behaupten und mit Pegida auf die Straße gehen. Philipp Gassert vom Mannheimer Institut für Zeitforschung fragt sich allerdings, ob der gegenwärtige Protest in den entwickelten Demokratien des Westens nicht eher Züge einer "konformistischen Revolte" trägt, ob er nicht in der Tendenz verstärkt konservativ, beabsichtigt ist oder wirkt. Ein Ende der Protestkultur in Deutschland sieht der Protestforscher aber nicht:
    "Wir werden auch in Zukunft noch viele Protestbewegungen erleben. Ich weiß nicht genau, welche das sein werden. Das hängt von den gesellschaftlichen Problemen und Bedürfnislagen ab. Aber es gehört nicht viel Phantasie dazu vorherzusagen, dass wir irgendwann wieder sehr viel Straßenproteste haben werden, wenn die Hütte brennt. Wenn die Gesellschaft, wenn die Politik nicht ausreichend responsive ist gegenüber bestimmten Problemen."