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Studie zu Spermienrückgang
"Noch im physiologisch normalen Bereich"

"Der Hoden produziert weniger Spermien, aber deswegen wird der Mann noch lange nicht unfruchtbar", sagte der Reproduktionsmediziner Stefan Schlatt im Dlf. Allerdings sei die Anzahl der Spermien vor allem bei älteren Paaren wichtig. Vielfältige Ursachen lägen möglicherweise in unserem westlichen Lebensstil.

Stefan Schlatt im Gespräch mit Uli Blumenthal | 26.07.2017
    Samenuntersuchung - Spermien
    "Wir führen eine sehr kontroverse Diskussion in der Wissenschaft, ob es eine sogenannte Spermienkrise gibt", sagte der Reproduktionsmediziner Stefan Schlatt im Dlf. (picture-alliance/dpa/Lehtikuva Martti Kainulainen)
    Uli Blumenthal: Die Zahl der Spermien von Männern in der westlichen Welt geht weiter zurück. Zwischen 1973 und 2011 habe die Spermienzahl um 50 bis 60 Prozent abgenommen, berichten Forscher im Fachmagazin "Human Reproduction Update". Für ihre Studie hatten die Wissenschaftler 185 Publikationen analysiert. Nun, Befunde über den Rückgang der Spermienzahl gibt es immer wieder, Befunde, die bis in die frühen 1990er-Jahre auch zurückreichen, und deshalb habe ich vor einer Stunde mit dem Reproduktionsforscher Professor Dr. Stefan Schlatt von der Universität Münster über die Metastudie gesprochen und ihn gefragt, ob das Ergebnis überraschend oder eher erwartungsgemäß ausgefallen ist.
    Stefan Schlatt: Das Ergebnis ist weder überraschend noch war es so zu erwarten. Es ist so, dass wir tatsächlich eine sehr kontroverse Diskussion in der Wissenschaft führen, ob es eine sogenannte Spermienkrise gibt. Diese Publikation ist vielleicht deswegen so herausragend, weil sie zum ersten Mal wirklich mit maximal guten Methoden eine Evidenz erzeugt hat, dass zumindest in der westlichen Welt es so etwas wie eine Abnahme der Spermien tatsächlich gibt. Auf der anderen Seite ist diese Studie aber auch nicht in der Lage, irgendwas zu den Ursachen zu sagen und hat in gewisser Weise die Tendenz, das Problem zu übertreiben, weil die Abnahme der Spermienzahl immer noch in einem völlig physiologisch normalen Bereich geschieht. Das heißt, der Hoden produziert weniger Spermien, aber deswegen wird der Mann noch lange nicht unfruchtbar.
    Spermienzahl vor allem bei spätem Kinderwunsch entscheidend
    Blumenthal: Wie steht es um die Fortpflanzungsfähigkeit von Männern in Europa, besteht nun Grund zur Sorge oder eher zu einer Beruhigung?
    Schlatt: Also die Fortpflanzungsfähigkeit ist sicherlich mit dieser Studie nicht gefährdet, wenn auch die Wahrscheinlichkeit, eine Schwangerschaft schnell und effizient zu erzeugen, tatsächlich problematisch sein könnte – vor allem bei Paaren, die sehr viel älter sind. Und das ist ja das große Problem in der Reproduktionslandschaft heutzutage, dass sie natürlich alle versuchen, sehr spät Eltern zu werden, und deswegen die Spermienzahl tatsächlich noch wichtiger wird, wie wenn man mit einer jungen Frau versucht, ein Kind zu zeugen.
    Blumenthal: Gibt es so etwas wie eine kritische Zahl von Spermien je Ejakulat oder pro Milliliter, also gibt es da eine Grenze, wo man sagt, da beginnt dann die Unfruchtbarkeit, und wenn ja, wie weit liegen die jetzigen Studienergebnisse von dieser Grenze entfernt?
    Schlatt: Das gibt es tatsächlich. Die Weltgesundheitsorganisation hat sozusagen ein Limit definiert - es ist aber etwas komplizierter, als nur mit der Spermienzahl zu arbeiten. Aber prinzipiell beginnt die Sorge um die Fertilität des Mannes bei ungefähr 20 Millionen Spermien, und es hat aber auch etwas zu tun mit der Gesamtzahl der Spermien pro Ejakulat, das heißt also, entscheidend ist die Zahl der Spermien, die sozusagen in die Frau transportiert werden. Dann ist es aber ganz wichtig zu wissen - das wurde gar nicht untersucht -, dass nicht nur die Zahl der Spermien, sondern vor allem auch deren Beweglichkeit einen sehr wichtigen Parameter darstellt. Das wurde aber hier nicht untersucht, aber auch deswegen nicht untersucht und ist auch nicht untersuchbar gewesen, weil sich die Bedingungen, mit denen man das misst, über die Jahre immer wieder geändert haben, sodass es keine verlässlichen vergleichbaren Daten gibt.
    Genauso viel Ejakulat - aber geringere Spermienkonzentration
    Blumenthal: Diese Studie, über die wir jetzt sprechen, hat auf drei Parameter geschaut: die Anzahl der Spermien je Ejakulat, die Konzentration der Spermien je Milliliter und das Volumen eines Ejakulats. Wo sehen Sie die größere Abnahme und wo sehen Sie die größeren Probleme, was die Fortpflanzungsfähigkeit anbetrifft, wo liegen die Probleme da?
    Schlatt: Die Studie hat auf zwei Parameter geschaut, der dritte Parameter hängt nämlich damit zusammen. Das heißt, die Studie hat die klassische Methode der Spermienauszählung unter dem Mikroskop als Hauptparameter verwendet, und da sich diese Bedingungen in den letzten [unverständliches Wort, Anm. d. Red.] oder 100 Jahren nicht verändert haben, wir immer noch mit einer Zellkammer im Mikroskop zählen, da kann man sagen, diese Daten sind relativ verlässlich. Hat dann dazu als Zweitparameter verwendet die angegebenen Ejakulatvolumina, das heißt also, man hat jetzt die Zahl der Spermien pro Milliliter ermittelt und hat dann das Ejakulatvolumen und kann daraus den dritten, natürlich davon abhängigen Parameter, nämlich die Gesamtzahl der Spermien pro Ejakulat einfach bestimmen. Und aus den beiden bestimmten Parametern sieht man, dass das Ejakulatvolumen sich nicht verändert hat, zumindest nicht signifikant, das heißt, der Mann produziert immer noch genauso viel Ejakulat wie vor 40, 50 Jahren, aber die Anzahl der im Ejakulat vorhandenen Spermien hat sich verändert. Von daher muss man sagen, es ist eine sehr, sehr limitierte Datenaufnahme, in der im Prinzip nur zwei Parameter, nämlich Ejakulatvolumen und Spermienkonzentration, verglichen werden.
    Pampers, Telefon, Aspirin - viele mögliche Ursachen
    Blumenthal: Gibt es nun Erklärungen oder gibt es Indizien für den Rückgang dieser Fruchtbarkeit bei Männern, wenn man es so formulieren will, kann man da ganz klare Faktoren ausmachen, oder ist das eher so ein Gemisch von Faktoren?
    Schlatt: Hier müssen wir sehr vorsichtig sein. Also die Studie hat nicht untersucht, ob Männer unfruchtbar geworden sind. Die Studie hat nur untersucht, ob die Spermienzahl abgenommen hat. Ich glaube, man kann fast behaupten, dass mit der Menge an Spermien, die jetzt noch über ist, wahrscheinlich überhaupt keine Fruchtbarkeitsabnahme zu beobachten ist. Man muss da vorsichtig sein, es wird mit Sicherheit Subpopulationen geben, die jetzt in einen kritischen Bereich rutschen, wie gesagt, noch mal, gerade weil wir versuchen, in höherem Alter Väter zu werden. Das muss man deutlich trennen, dass diese Studie nicht beweisen kann oder behaupten kann, dass die Fertilität des Mannes gefährdet ist. Ursachen, hatten Sie gefragt, kann es so viele geben, wie es wissenschaftliche Arbeitsgruppen gibt. Wir haben in den letzten Jahren schon sehr viele verschiedene Modelle gehabt. Es fängt an mit der Pampers, die viel zu dicht ist und den Jungens in den ersten Lebensjahren einen zu warmen Hoden beschert, das Telefon, was wir in der Tasche tragen, wir haben die Aspirintablette, die wir gegen Kopfschmerzen einwerfen, wir haben so viele unterschiedliche Begründungen, die alle vielleicht in der Summe auch was ausmachen könnten. Das kann allein schon daran liegen, dass wir heute in einer modernen westlichen Gesellschaft einfach viel häufiger ejakulieren und dass ein Mann deswegen vielleicht seinen Speicher - der Nebenhoden ist ein Speicherorgan - niemals so voll hat wie noch vor 40, 50 Jahren. All das sind Dinge, die kann man sehr schwer untersuchen, und diese Faktoren spielen sicherlich eine große Rolle.
    Anscheinend nur bei Männern aus westlichen Industrienationen
    Blumenthal: Bei Männern, so ist im Zusammenhang mit dieser Studie zu lesen, aus anderen Weltregionen - Südamerika, Asien und Afrika - wurden hingegen solche statistisch signifikanten Entwicklungen oder Trends nicht entdeckt. Heißt das, diese veränderten Zahlen betreffen nur Männer aus westlichen Industrienationen?
    Schlatt: Könnte man so interpretieren, sieht auch tatsächlich so aus - indische oder arabische oder chinesische Männer scheinen nicht betroffen zu sein. Aber auch das zeigt wieder, dass man da noch mal genau hinschauen muss, denn auch unsere Väter sind ja nicht betroffen. Es ist nur eine unselektierte Population der westlichen Männer, die hier einen deutlichen Effekt gezeigt hat. Trotzdem glaube ich, dass es schon jetzt alarmierend ist, dass irgendwas im Hoden nicht mehr so funktioniert, wie es soll, und dass einfach die Spermienzahl, die wir produzieren, zunächst mal abgenommen hat. Das muss man denen einfach schon glauben.
    "Wir müssen uns noch nicht zu viele Sorgen machen"
    Blumenthal: Sie sind Reproduktionsforscher an der Universität Münster - welche Untersuchungen, welche Studien müssen getan werden? Das war jetzt, haben Sie ja gesagt, eine Metastudie, also müsste es Studien geben, und wenn ja, wie müssten die aussehen, die noch mal die klare Frage eines Ja oder Nein dann beantworten können?
    Schlatt: Es wird notwendig sein, jetzt Studien zu beginnen, um zum Beispiel den Effekt vom Alter des Mannes genauer zu untersuchen auf die Spermien. Es wird vielleicht auch spezifische Studien geben müssen, um noch mal nach bestimmten Substanzklassen zu schauen, die zumindest sehr stark im Verdacht stehen, den Hoden negativ zu beeinflussen. Ob man damit aber sehr großen Erfolg hat, wenn man diese eine Ursache findet, oder ob wir nicht einfach damit leben müssen, dass wir jede Menge von Ursachen in unserem Lebensstil haben, die unsere Organe so beeinflussen, bleibt abzuwarten. Solange wir nicht in unserer Fertilität gefährdet sind, sondern nur, in Anführungszeichen"nur" weniger Spermien im Ejakulat haben, aber noch im biologischen normalen Bereich, müssen wir uns noch nicht zu viele Sorgen machen.
    Blumenthal: Gibt es eine weltweite Spermienkrise? Der Reproduktionsforscher Professor Dr. Stefan Schlatt von der Universität Münster über eine Metastudie, die 185 entsprechende Publikationen analysiert hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.