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Stummfilmszenen

In letzter Zeit wird auch in Spanien über den Roman lamentiert, der sich angeblich bisher - so wörtlich - "guter Gesundheit" erfreut habe. Die Masse der Romane sei langweilig, die Gattung als literarische Erneuerung und Beitrag zur Kultur im Verschwinden begriffen, konstatierten jüngst hochangesehene Autoren wie etwa Eduardo Mendoza oder José María Guelbenzu.

Hans-Jürgen Schmitt | 28.01.1999
    Einer, der sich von der Masse des gängigen spanischen Romans, dieser literatura light, immer abgehoben hat, ist der 1955 in einem kleinen Dorf Asturiens geborene Julio Llamazares mit seinen beiden Romanen "Wolfsmond" und "Der gelbe Regen" und neuerdings mit Büchern, in denen er neue Formen des Erzählens meisterhaft erprobt; so die mit einem understatement als portugiesisches Reisebuch deklarierte "Prosa Tras-o-Montes" oder sein nun auf deutsch bei Suhrkamp vorliegendes Prosabändchen "Stummfilmszenen", das sein Verfasser im Vorwort "Roman" nennt, weil "jeder Roman autobiographisch sei und jede Autobiographie eine Fiktion". Was geschieht in diesen Stummfilmszenen? Llamazares erzählt anhand von 28 Bildern aus dem Photoalbum seiner Kindheit, die seine Mutter bis zu ihrem Tod aufgehoben hatte. Es sind die ersten 12 Jahre seines Lebens in der verlorenen Welt eines armseligen Bergarbeiterdorfs Asturiens, das heute völlig von der Landkarte verschwunden ist. Dessen elende Geschichte wird zunächst in einem "Vorspann" in wenigen Strichen skizziert, in dem der Autor für sich festhält: mit den Jahren alles von diesen Menschen und Kindern gelernt zu haben, was für ihn wichtig war, vor allem, "daß die Frage nicht ist, ob es ein Leben nach dem Tod, sondern eins davor gibt". Das Buch beginnt nicht von ungefähr mit zwei Widmungen in memoriam: "Für meine Mutter, die schon Schnee ist." Und "Meinem Freund und Übersetzer Willy Böhringer, der viel zu früh verstummt ist."

    Im Buche dann: der Tod in der Zeche, der Unfalltod oder der Tod durch die Steinlunge und andere böse Folgen der Schwerstarbeit unter Tag - sie begleiten ständig diese miniaturartig erzählten Geschehnisse. Dazu kommen erinnerte Bilder der Politik jener Zeit, wenn etwa der aus Kindersicht bis dahin "gute" Franco sich in den bösen verwandelt, angesichts des bevorstehenden ersten Bergarbeiterstreiks nach dem Bürgerkrieg in Olleros, als die Guardia Civil dort Stellung bezieht. (Die asturianischen Bergarbeiter sind bekanntlich in der modernen Geschichte Spaniens immer die rebellischsten gewesen.) Dieses Olleros war für den jungen Julio ein Ort, in dem das Leben nur in Schwarzweiß verlief, eingeschlossen in jene Grube, in der die Berge tot, die Bäche von Kohle schwarz und nur die Wäsche und der Schnee manchmal die trübe Landschaft in Weiß zeigten und auch das Kino noch keine Farbe kannte. Lange Zeit, so erzählt Llamazares, habe er geglaubt, Farben existierten nur in seiner Vorstellung; er malte darum die Filmfotos bunt an.

    Diese "Fußnoten zu Fotographien", wie der Autor seine 28 Prosastücke einmal nennt, haben eine besondere Atmosphäre, einen besonderen Glanz. Sie sind nicht realistisch gespiegelte Abbilder einer schon immer gekannten Welt, sondern Versuche, mittels der Erinnerung und der Imagination den Fotos eine Zeit, eine Geschichte zurückzugeben und eine Wahrheit; eine Wahrheit, die den Stempel des autobiographischen Ich trägt und damit eine besondere Form von Authentizität hat. Die Statik der Fotos verwandelt sich kraft des sich erinnernden Subjekts in eine Tiefendynamik, die zuweilen sogar durch einen synästethischen Erkenntniseffekt bewirkt wird.

    Als Kind steht Julio vor den Standbildern des Dorfkinos und denkt sich zu den Geräuschen und Tönen die bewegten Bilder aus und montiert sich so die Filme, die er noch nicht sehen darf. Später, als er mit dreißig zum ersten mal in die USA fährt, erscheint ihm das wirkliche Amerika als das längst vertraute - durch die Filme, die er inzwischen gesehen hatte.

    Die Nachricht von der Ermordung Kennedys kann der kleine Junge nicht einordnen, denn, was er nicht im Kino gesehen hat, konnte er sich nicht als wirklich vorstellen. Aber hier merkte er am Verhalten der Eltern plötzlich, daß es außer dem Leben in seinem Ort noch Leben und Tod woanders geben mußte. Neben der Entdeckung der Liebe und der vergehenden Zeit, so sagt er, sei dies damals die wichtigste Erkenntnis seiner Jugend gewesen.

    Sich erinnern heißt für Llamazares nicht nur Phantasie haben, sondern sich auch schmerzbewußt und mit Wehmut der eigenen Zeit zu stellen. Darum wählt er für diesen Vorgang auch sehr eindringliche Bilder: Erinnerungen und Fotographien werden in der "Dunkelkammer unseres Gedächtnissen entwickelt, in diesen geheimen magischen Kammern, die wir alle im Hinterstübchen unseres Lebens eingerichtet haben". Oder: "Erinnern ist ein Grubengewirr in unserem Gehirn."

    In Berlin erinnert er sich angesichts des bekannten Teufelsbergs im Grunewald an die Abraumhalden seines Dorfes und die vielen Bergwerkstoten. Die schwermütigen Gesänge des Muezzin in Bagdad lassen ihn auf dem Foto, auf dem er zusammen mit einem der marrokanischen Bergarbeiter zu sehen ist, ihre Musik hören, die er damals, als er der kleine Julio war, gar nicht wahrgenommen hatte.

    Text Eine verkehrt, also rückwärts gehende Uhr in einem Lissabonner Café läßt ihn jedesmal beim Betrachten die Zeit vergessen, und eine Erinnerung überflutet ihn, wie er heimlich draußen in der Nacht mit einem Mädchen zum Tanz der Erwachsenen mittanzte zu einem Lied, das anhebt: "Man lebt nur einmal. Leben und Lieben lernen ist nicht leicht..." In der Begegnung mit sich selbst und diesem kleinen Bergarbeiterdorf in seinem Kampf gegen die Zeit und den Tod erzählt Llamazares en miniature eine Kulturgeschichte des Alltags. Aus Autobiographie und Historie ist ihm damit eine exemplarische Kunstform geglückt, der die gegenwärtige spanische Prosa kaum Vergleichbares entgegenzusetzen hat.