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Stunden im Leben eines alten Mannes

Vor zwei Jahren machte Arne Roß in Klagenfurt mit der Erzählung "Pauls Fall" Furore. Sie zeichnete behutsam ein paar Stunden im Leben eines alten Mannes nach, und sie hätte, trotz Inka Pareis Sieg mit einem ähnlichen Thema ein Jahr zuvor wohl den Bachmannpreis gewonnen, wenn nicht Uwe Tellkamp mit seiner grandiosen Überwältigungsprosa dazwischen gekommen wäre. So blieb es beim zweiten, dem "Preis der Jury", immerhin.

Von Martin Ebel | 27.07.2006
    Inzwischen hat sich die Erzählung auf Romanlänge ausgewachsen und ist jetzt als Buch erschienen; der Autor, scheint es, hat sich die Geduld, mit der er jeden Schritt seines Helden verfolgt, auch selbst zugestanden und nicht den schnellen Erfolg gesucht.
    Dem Text ist jede Eile fremd. Zeit ist das, was Paul im Übermaß zur Verfügung steht, aber er braucht sie auch im hohen Maße. Was das Alter mit Menschen anrichtet, zeigt Arne Roß nicht durch drastisches Ausstellen von Defiziten und Behinderungen, sondern überwiegend auf der Zeitachse. Er zeigt, wie sich die Wahrnehmung verlangsamt, wie jede Handlung in ihre Einzelteile zerlegt wird, deren jedes wiederum die volle Aufmerksamkeit verlangt.

    Sich an- oder auszuziehen, sich zum Ausgang rüsten, zwei verschiedene Vorhaben auseinander zu halten, sich für einen Weg zu entscheiden, ein Gespräch zu führen: Für all das braucht Paul Kraft, Konzentration und Zeit, damit es überhaupt noch gelingt. Und indem Arne Roß das verlangsamte Leben seinerseits mit Aufmerksamkeit und Sorgsamkeit nachzeichnet, verlangsamt er die Wahrnehmung des Lesers, wenigstens für die Dauer der Lektüre.

    Er schaut dann durch die Augen des alten Mannes. Immer wieder ist die Rede davon, dass Paul seinen Blick hier- oder dorthin wendet und wieder zurückzieht, was er als bewussten, anstrengenden Akt vollziehen muss. Immer wieder müht er sich darum, aus der Totalen das für ihn bedeutsame Detail herauszufiltern. Man meint förmlich zu spüren, wie die Signale zwischen Sinnesorganen, Bewegungsapparat und lenkendem Gehirn im Schneckentempo hin- und herwandern.

    Wie wenn er uns einen dieser Anzüge anzöge, die entwickelt wurden, um die schwerfälligeren Bewegungen älterer Arbeitnehmer zu simulieren, zwingt der Autor uns, die Welt mit dem langsamen Schritt seines Helden zu durchschreiten, mit den langsameren Augen zu durchmessen. Die Welt - das ist die kleine Wohnung, in der er mit seiner Frau (sie erhält nur das Initial G.) bewohnt; das ist das Dorf, dessen Straßen er an diesem Nachmittag durchstreift, mit langen Schleifen bis zu einem Wald, einem See, einer Wiese, immer wieder unterbrochen und erschreckt von Tieffliegern.

    Paul begegnet Autos, in deren Fahrern er Bekannte zu erkennen meint, er grüßt und wird nicht zurück gegrüßt - Alte werden gern übersehen, verstehen wir -, macht zwei Besuche, einen bei einem alten Freund, dem Professor Schneider, einen bei einer alten Freundin, Ingeborg.

    Das Personal dieses Romans, der auch auf der Langstrecke eigentlich eine Erzählung bleibt, ist alt, und es bildet eine Welt für sich. Die Jungen sind woanders (der "Junge" von Paul und G. etwa in Berlin; man erfährt, dass er Zwillinge hat und gelegentlich anruft, ansonsten ist er aus dem Leben des Alten verschwunden). Man hält es miteinander aus, man hat gemeinsame Erfahrungen, gemeinsame Nöte, aber aus dieser Gemeinsamkeit entsteht keine Solidarität; eher fällt auf, wie sich Arne Roß' alte Menschen gegenseitig beäugen, auf der Suche nach Zeichen der Hinfälligkeit beim anderen. Wer krümelt, wer zittert mehr beim Kaffeetrinken und Kuchenessen, wer verschüttet ihn gar? Wie steht es um das Gedächtnis des Gegenübers, was hat er äußerlich dem Alter noch entgegenzusetzen? Kleine Gehässigkeiten fehlen nicht, nicht einmal unter Ehe- und Liebespartnern, und dass Paul dem Professor Schneider den Kuchen, den er ihm bringen soll, wegisst, verursacht ihm nicht das kleinste Schuldgefühl.

    Arne Roß geht mit seinem Helden sorgfältig, behutsam, fast liebevoll um. Die Verlängerung der Erzählung führt allerdings nicht zu einer Ausweitung der Erzählzone (und schon gar nicht zu einem Erkenntniszuwachs), eher dann doch zu Regungen leichter Ungeduld. Die Erzählung war konsequenter, zwingender als der Roman. Allerdings war jene offen, dieser erhält einen Schluss.

    "Aus der Höhe über ihm näherte sich etwas, und er wusste nicht, was es war, es fesselte ihn in seinem hingekrümmten Körper, erfasste seine Augen und sein Haar, drang in seinen Kopf ein, breitete sich blitzschnell dort aus, und wuchs und wucherte, und fand keinen Platz mehr, drängte, auf der Suche nach einem Schlupfloch, immer stärker hinaus, gegen die Wände des Schädels, der jetzt zum Zerbersten gefüllt war, und ließ Schaum vor seinen Mund treten, doch seinen Mund selbst erfasste es nicht, denn er öffnete ihn unter Qualen. Ja, sagte er. Das Zittern, das ihn danach ergriff, dauerte auch in jener Morgenstunde noch an, da G. aufwachte und entdeckte, dass ihm etwas zugestoßen war."

    Wenn er den Schlaganfall überhaupt überlebt - begreift der Leser -, wird der geschilderte Tag doch der letzte gewesen sein, in dem Paul noch über sich selbst verfügt hat. Und von diesen letzten Sätzen aus leuchtet das, was bei der Lektüre eher unter dem Gesichtspunkt der Verlangsamung und Beschränkung, der mühsamen Beherrschung wahrgenommen wurde, plötzlich in allen Farben. Denn auch wenn er tastet und zittert, wenn er sinnlos um sich kreist und eigensinnig vor sich hin bruddelt, Paul lebt noch, und wie - vom Ende aus gesehen. Dieses Ende schwebte wie ein Damoklesschwert über dem Alter, über der Erzählung; für den Roman hat sich der Erzähler entschlossen, den Faden zu durchtrennen, der das Schwert in der Schwebe hielt.