Freitag, 19. April 2024

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Sturm auf das US-Kapitol
"Das ist eine Riesengefährdung der Institutionen"

Nach dem Sturm auf das Kapitol gehöre in den USA die Bedrohung von Verfassungsorganen auf einmal zum politisch Möglichen, warnte Ex-Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) im Dlf. Die Republikaner trügen große Verantwortung, weil sie ihre Seele an einen gesetzlosen Präsidenten verkauft hätten.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.01.2021
Sigmar Gabriel (SPD), Vorsitzender der Atlantik-Brücke e.V.
Ex-Bundesaußenminister Sigmar Gabriel engagiert sich als Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke weiter für die transatlantische Zusammenarbeit (dpa/ Britta Pedersen)
Mit US-Präsident Donald Trump habe der oberste Repräsentant des Landes zum Sturm auf das "Herz der Demokratie", das Parlament, aufgefordert, betonte der ehemalige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) im Gespräch mit dem Dlf. Damit sei der Sturm auch auf andere Verfassungsorgane in den Bereich des politisch möglichen gerückt. Es gebe viele Institutionen in den USA, die solchen gewalttätigen Angriffen ausgesetzt sein könnten, warnte der SPD-Politiker.
John Christian Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Berlin
"Sogar Trump hat gemerkt, dass er es zu weit getrieben hat"
In einer Videobotschaft hat Donald Trump den Angriff auf das Kapitol in Washington verurteilt. Die versöhnlichen Töne, zeigten, dass der US-Präsident nun wirklich in der Klemme sitze, sagte der ehemalige US-Botschafter in Berlin John Kornblum im Dlf.
Das Establishment der republikanischen Partei trage große Verantwortung an der Entwicklung, betonte Gabriel, der sich als Vorsitzender des Vereins Atlantik-Brücke für die transatlantische Zusammenarbeit engagiert. Die Republikaner hätten ihre Seele an einen Gesetzlosen verkauft, für Ämter und Macht. Trump habe in der Partei weiter Unterstützung. Bis zuletzt hätten republikanische Abgeordnete versucht, das Ergebnis der Präsidentenwahl anzufechten.

Allein wird Biden Versöhnung nicht gelingen

Die Versöhnung der gespaltenen US-Gesellschaft könne nur gelingen, wenn sich große Teile der republikanischen Partei dauerhaft von Trump abwenden, aber auch von der Strategie, Wähler so zu radikalisieren, dass politische Feindschaft entstehe. Alleine werde es dem gewählten Präsidenten Joe Biden nicht gelingen, die Gesellschaft zu versöhnen. Um den vorhandenen Zorn auf die politischen Eliten zu besänftigen, müssten die sozialen Bedingungen Amerikas verbessert werden. Die Menschen im Alltag müssten erleben, dass sich etwas verändert, sonst wird der Zorn weiter fortbestehen.
Trump-Anhänger, mit wehenden US-Fahnen, vor dem Kapitol in Washington.
"Die Beschmutzung republikanischer Ideale"Die Erstürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger erschüttert Menschen weltweit. "Es ist ein Skandal, dass niemand vorbereitet war auf diese Gewalttat" sagte Simon Wendt, Professor für Amerikanistik.
Unter dem neuen Präsidenten Biden haben Europa und Deutschland nun wieder einen Verbündeten. Deutschland müsse nun auf die USA zugehen – aber auch das innerhalb der NATO vereinbarte Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben erfüllen. Die Forderung der USA, dass Europa zumindest die Hälfte der gemeinsamen Verteidigungsausgaben aufbringen soll, sei fair und richtig. Deutschland könnte mit dieser Forderung intelligent umgehen, etwa indem man nicht nur in die Bundeswehr, sondern auch in die Verteidigungsfähigkeit Osteuropas investieren. Damit könne Deutschland zeigen, dass es Verantwortung übernimmt.

Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Gabriel, Joe Biden nannte die Aufrührer inländische Terroristen. Bei aller Vorsicht mit historischen Vergleichen: Erinnert Sie das, was in Washington zu sehen war, an den Straßenterror in Deutschland Anfang der 30er-Jahre?
Sigmar Gabriel: Nein, Gott sei Dank noch nicht, muss man sagen, denn wer die Bilder der 30er-Jahre vor Augen hat, für den sind Straßenschlachten Gewalt, Ermordung politischer Gegner. Die waren damals an der Tagesordnung. Die Weimarer Republik hatte Institutionen, die besetzt waren von Demokratiefeinden, die Gerichte ließen die Mörder und Totschläger in der Regel laufen oder es gab milde Strafen. Der Vergleich, glaube ich, ist schräg. Das hat eine eigene, schlimme Wirkung, was in Amerika passiert ist, aber es zu vergleichen mit den 30er-Jahren in Deutschland, das, glaube ich, ist ein Vergleich, der Gott sei Dank nicht zutrifft.

"Sturm des Herzes einer Demokratie"

Heinemann: Noch nicht, haben Sie gesagt, bewegt sich etwas in diese Richtung?
Gabriel: Na ja, ich meine, wir haben uns wahrscheinlich alle gewundert, wie in den letzten Monaten Bilder sichtbar wurden von bewaffneten Milizen, die von links und rechts durch die Städte marschierten. Das sind Bilder, die sehr erschreckend sind, und natürlich ist der Sturm des Herzes einer Demokratie, also des Parlaments, aufgefordert durch den obersten Repräsentanten des Landes. Das ist schon eine Riesengefährdung der amerikanischen Institution, das wird auch das Klima in Amerika verändern. Gucken Sie mal, vor ein paar Tagen wäre es undenkbar gewesen, sich solche Bilder vorzustellen, da hätte man gesagt, gut, das kommt aus irgendeinem schlechten B-Movie-Film, da hat sich jemand eine Katastrophe ausgedacht und einen Film drüber gemacht. Jetzt gehört die Bedrohung von Verfassungsorganen, der Sturm von Gebäuden auf einmal zu dem, was politisch möglich ist. Es gibt ja viele denkbare Institutionen in Amerika, die solchen gewalttätigen Angriffen ausgesetzt sein könnten. Das ist schon eine, wie ich finde, große Qualitätsverschlechterung, auch wenn es nicht die Instabilität der Dreißiger Jahre hat.

Biden brauche die Unterstützung der Republikaner

Heinemann: Herr Gabriel, Joe Biden und Kamala Harris haben jetzt zwei Jahre Zeit, um das Land zu verändern. 2022 finden die nächsten Kongresswahlen statt, der Senat könnte dann wieder kippen und das Repräsentantenhaus, je nachdem. Was müssen beide bis dahin auf den Weg bringen?
Gabriel: Ich will der Frage nicht ausweichen, aber vielleicht eine Vorbemerkung machen: Eins wird nicht gehen, dass diejenigen, die nicht verantwortlich sind für die Spaltung, die diese Auseinandersetzung nicht vorangetrieben haben, dass die alleine die Versöhnung schaffen. Es gibt eine große Verantwortung des republikanischen Establishments in der Führung und den Abgeordneten der Republikanischen Partei, denn diese Partei ist eine stolze und großartige Partei gewesen, die viel für Amerika, viel für Europa und Deutschland getan hat, die letztlich ihre Seele an einen Gesetzlosen verkauft haben, um Ämter zu bekommen, um Macht zu erlangen, und bis hinein in den Abstimmungsprozess vorgestern haben Abgeordnete versucht, das Wahlergebnis anzufechten. Trump hat in dieser Partei massive Unterstützung, das ist ja der ganze Sinn seiner Aktion, er will ja Kontrolle über Teile dieser Partei erhalten, er will ja Teil der Machtauseinandersetzung bleiben. Wenn Versöhnung gelingen soll, müssen sich große Teile der Republikanischen Partei dauerhaft von ihm abwenden, aber auch von der Strategie, Wähler so zu radikalisieren, dass sozusagen es nicht mehr bei einem Wahlkampf einen Wettbewerb zwischen zwei Parteien gibt, sondern, das war ja hier der Fall, dass Feinde antreten. Wer politische Feindschaft predigt, der hat am Ende Anhänger, die sagen, na ja, wenn’s um den Untergang des Abendlandes geht, dann ist doch alles gerechtfertigt, was ich tue, um das Abendland zu retten. Und wenn das nicht aufhört, wenn die republikanischen Senatoren, die Republikanische Partei sich nicht lossagt von dieser Wählerstrategie – nicht nur von Trump alleine, sondern von dieser Strategie –, dann wüsste ich nicht, wie es Biden alleine schaffen soll.

"Nichts mehr übrig vom Traum vom Tellerwäscher zum Millionär"

Heinemann: Gibt es dafür Anzeichen, mit welcher Entwicklung bei den Republikanern rechnen Sie?
Gabriel: Na ja, jedenfalls ein paar sind offensichtlich jetzt dabei zu sagen, enough is enough, sehr spät, muss man sagen, sehr spät, erst nachdem das Kind in den Brunnen gefallen war. Ich weiß nicht, ob die Spaltung einer Partei im amerikanischen Parteiensystem möglich ist, dass Mehrheitswahlsystem zwingt die eigentlich zueinander, aber jedenfalls gibt es erste Absetzbewegungen. Man kann nur hoffen, dass die gewinnen, die sozusagen einem aufgeklärten Konservativismus anhängen, die sagen, im 21. Jahrhundert macht es keinen Sinn, den Menschen einzureden, man könne sie ins 20. Jahrhundert zurückführen – das war ja Trumps Strategie. Stattdessen braucht Amerika einen Wettbewerb zwischen Parteien und Präsidentschaftskandidaten, die sagen, das ist der Weg für alle ins 21. Jahrhundert, auch für die ländlichen Regionen. Wir nehmen die mit, die nicht so schnell sind, die die Digitalisierung bedroht, wir versuchen, wieder soziale Mobilität im Land zu schaffen – Amerika ist ja das Land, in dem Sie am einfachsten den Lebensweg eines Kindes vorhersagen können, wenn Sie den Lebensweg der Eltern beschreiben. Da ist nichts mehr übrig vom Traum vom Tellerwäscher zum Millionär, und das alles hat sozusagen den Ärger veranlasst. Ich glaube, wenn man den Ärger, die Wut und den Zorn auf die politischen Eliten wieder wegbekommen will, dann muss man die sozialen Bedingungen Amerikas verbessern. Wenn die Menschen im Alltag nicht erleben, dass sich was verändert, dann werden sie ihren Zorn weiter mit sich und ihren Gegnern austragen.

Trump "wollte ja keine Verbündeten"

Heinemann: Und dann kommt die Außenpolitik auch noch dazu. Wie können Verbündete der neuen Führung helfen, zum Beispiel Deutschland?
Gabriel: Na, erst mal haben wir wieder einen Verbündeten, und die Amerikaner haben auch einen, denn das war ja Trumps Besonderheit, er wollte ja keine Verbündeten. Das ist deshalb schon verrückt, weil der eigentliche Machtmultiplikator Amerikas immer die Fähigkeit war, Allianzen zu bilden. Es gibt keinen Alliierten Russlands, es gibt keinen Alliierten Chinas, es gibt Abhängige, aber keine Partner auf Augenhöhe. Deswegen wird es jetzt Möglichkeiten geben, auch Konflikte, die es ja gibt zwischen uns und Amerika, zwischen uns Europäern, uns Deutschen und den USA, dafür werden wir wieder Kompromisse finden können. Aber was wir tun können, ist, nicht auf Amerika zu warten. Offensiv auf das Land heranzugehen, zu sagen, das sind unsere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit in der Energie- und Klimapolitik …

Europa müsse Verteidigungsfähigkeit im eigenen Interesse erhöhen

Heinemann: Werden wir an einem Punkt, Herr Gabriel, noch mal konkreter: Was würde es für Präsident Biden bedeuten, wenn Deutschland zum Beispiel bei dem Zwei-Prozent-Ziel der NATO-Militärausgaben dauerhaften nein sagen würde?
Gabriel: Das würde natürlich eine große Belastung sein für diese transatlantische Partnerschaft, weil die Amerikaner – das hat übrigens nichts mit Trump zu tun … Die Amerikaner haben ein gewichtiges Argument, die sagen: Europa und die USA sind gleich große Volkswirtschaften, warum sollen wir Amerikaner 70 Prozent der Verteidigungslasten Europas tragen? Es ist doch fair, wenn wir das wenigstens mal auf fifty-fifty bringen, und ich finde, das Argument ist richtig. Wir können als Deutsche mit der Forderung intelligent umgehen, wir können sagen, wir packen 1,5 Prozent in die Bundeswehr, damit die nicht gegenüber anderen europäischen Armeen als zu gigantisch erscheint nach zehn Jahren, und wir packen 0,5 Prozent in die Verteidigungsfähigkeit Osteuropas, weil das bisher nur die Amerikaner machen. Damit zeigen wir Deutschen auch noch, wir übernehmen Verantwortung, die bislang nur die Amerikaner hatten. Wir müssen aufhören, die Debatte über Verteidigungspolitik zu führen, als ginge es darum, einem US-Präsidenten einen Gefallen zu tun. Es geht darum, dass die Welt sich dramatisch ändert, Amerika wird sich auch unter Joe Biden ein Stück von Europa, von Afrika abwenden, hinwenden zum Indopazifik – da ist der neue Herausforderer der USA –, und das Vakuum müssen die Europäer selber füllen. Es ist unser Interesse, unsere Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen, es ist nicht eine Liebesgabe.

Europa könnte "zum Spielball werden"

Heinemann: Wer erklärt das der SPD-Führung?
Gabriel: Das ist außerordentlich schwierig, ist mein Eindruck, ich bin jedenfalls damit gescheitert, aber ich glaube, dass das eine der zentralen Fragen ist. Wenn Sie Verteidigungspolitik und Sicherheitspolitik immer nur sozusagen am eigenen Bauchnabel entlang machen, dann stehen Sie irgendwann vor der Entscheidung, wollen Sie eigentlich immer deutsche Alleingänge oder ist das ernst gemeint, wenn man an anderen Tagen sagt, wir müssen Europa zusammenhalten. Die Forderung, sich eigenständiger zu machen, auch in der Verteidigungspolitik, wird von unseren Nachbarn erhoben. Es sind Franzosen, die sagen, es kann nicht sein, dass wir in Mali immer wieder in die Lage kommen, dass wir kämpfen müssen, französische Soldaten kämpfen und ihr fotografiert nur. Man muss die Wahrheit auch mal aussprechen und aufhören, eine angstbesetzte Debatte über Amerika zu führen, als seien die Amerikaner schuld daran, dass wir über Verteidigung reden müssen. Ich glaube, wenn wir das nicht machen, dann wird Europa zum Spielball, dann werden wir einfach nicht ernst genommen. Wir gelten als reich, aber politisch uninteressant, solange wir nicht selbst in der Lage und fähig sind, unsere Interessen auch alleine zu verteidigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.