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Sturm im Wasserglas

Technik. - Den Nordseeküsten stehen harte Zeiten bevor: der Meeresspiegel steigt, Stürme werden immer heftiger und der Grund sinkt durch Gasförderung. Um die Deiche darauf vorzubereiten, lassen Ingenieure Wellen darüber schwappen - in einem neuen Simulator.

Von Anneke Wardenbach | 26.03.2007
    Ingenieur Jentsje van der Meer steht auf der Deichkrone im kalten Wind. Neben ihm pumpt ein Traktor Wasser in einen vier Meter breiten und zweieinhalb Meter hohen Tank.

    "Wir simulieren gerade einen sechs Stunden langen Sturm, bei dem durchschnittlich jede Sekunde ein Liter Wasser auf der Breite von einem Meter über die Deichkrone schlägt. Aber nicht laufend, sondern plötzlich. Dieser Container sammelt das Wasser und simuliert dann eine echte Welle, dann kommt schlagartig ziemlich viel Wasser herunter."

    Ein genau vier Meter breites Stück Deich ist mit Brettern abgesteckt. Eine spezielle Klappe unter dem Wassercontainer öffnet sich und gibt dem aus dem Container herab fallenden Wasser eine horizontale Fließrichtung, genau wie eine Welle, die über die Deichkrone schwappt. Die Konstruktion kann Wellen jeder Größe simulieren, mal rinnt eine dünne Wasserschicht den Deich hinunter, mal donnern bis zu 14 Kubikmeter Wasser landeinwärts. Jentsje van der Meer hat diese Wellen-Überschlagsmaschine mit entworfen. Als Weltneuheit ist sie in diesen Tagen zum ersten Mal im Einsatz, sagt er. Bisher wurden Deiche immer so entworfen, dass kein Wasser über die Krone kommt. Deswegen ist auch völlig unbekannt, wieviel überschlagendes Wasser ein Deich überhaupt verträgt. Es gibt keine Referenzwerte. Maßstabversuche in künstlichen Wellenkanälen lassen sich nicht ohne weiteres eins zu eins auf echte Deiche übertragen, erklärt Ingenieur Gert Jan Akkerman aus Nimwegen:

    "Referenzwerte gibt es eigentlich nicht. Es gibt Versuchskanäle, zum Beispiel den großen Wellenkanal in Hannover. Aber das ist sehr schwierig, um den Ton auf die richtige Weise anzubringen. Ton anbringen ist sehr schwierig. Auf einem Deich ist das sehr stark konsolidiert, zusammengepackt. Das ist natürlich in einem Wellenkanal bei Tests nicht so. Da ist das sehr locker."

    Der Versuch auf dem echten Deich kostet insgesamt eine halbe Million Euro. Der Grundgedanke: Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wenn ab und zu Wasser über die Deichkrone schlägt. Dann könnte man sich die teuren Deicherhöhungen sparen. Doch zuvor muss man sicher wissen, dass die Innenseite des Deiches davon nicht abrutscht – und wie sie eventuell zu verstärken ist.

    "Was wir herausfinden wollen ist, wie ein Deich bricht. Wenn wir das in einem Model beschreiben können, können wir auch damit rechnen und Deiche entsprechend gestalten."

    In dieser ersten Versuchsreihe mit dem Wellen-Überschlagssimulator testen die Wissenschaftler drei verschiedene Deichoberflächen: die nackte Lehmschicht, normales Gras und verstärktes Gras. Dazu wurde ein Deichabschnitt schon vor einem Jahr speziell präpariert. Das Gras wurde in einer etwa fünf Zentimeter dicken Schicht mitsamt Wurzeln abgeschnitten und aufgerollt. Darunter verlegten die Ingenieure ein so genanntes Geotextil. Das ist eine fünf bis zehn Millimeter dicke Matte aus dem Kunststoff Polypropylen. Bisher wurden solche Geotextilien nur im Straßenbau, also im Trockenen benutzt. Ingenieur Gert Jan Akkerman:

    "Aber es ist niemals angebracht worden auf einem Deich, auf einem Deich, der durch Wellenüberschlag belastet wird. Also wir haben das untersucht und das wirkt fantastisch."

    Die Kunststoffmatte hat eine dreidimensionale Netz-Struktur, bildet also Hohlräume, in denen sich die Graswurzeln gut verankern können. Die Experimente auf dem Deich sind zwar noch nicht wissenschaftlich ausgewertet, doch augenscheinlich ist das Gras auf dem Deich widerstandsfähiger als die Wissenschaftler vermutet hatten. Deiche an der Innenseite mit Geotextilien unter dem Gras zu verstärken, ist in Zukunft möglicherweise eine preiswerte Alternative zur Deicherhöhung.