Psychische Erkrankungen bei Orchestermusikern

Kampf gegen ein Tabu

06:43 Minuten
Im Bildvordergrund ist eine Cellistin zu sehen, im Hintergrund drei weitere Musiker mit Streichiinstrumenten.
Leistung, Leistung, Leistung: Für viele Orchestermusiker entsteht ein immenser Druck. © Unsplash / Kael Bloom
Heidi Brandi im Gespräch mit Carsten Beyer · 03.07.2020
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Klassikorchester sind speziell: Viele hochsensible Individualisten hocken eng aufeinander und stehen unter hohem Leistungsdruck. Dass sie deshalb häufiger als andere unter psychischen Problemen leiden, werde tabuisiert, sagt Therapeutin Heidi Brandi.
Orchestermusikerinnen und -musiker in der Klassischen Musik stehen immer unter Druck: Es beginnt damit, überhaupt die Aufnahme in ein Orchester zu schaffen, dann die Probezeit und Konkurrenzhakeleien mit Kolleginnen und Kollegen dort zu überstehen und schließlich gleichbleibend exzellente Leistung am Instrument zu bringen, um den Platz im Orchester nicht zu verlieren.
Aber nur die wenigsten der oft hochsensiblen Musikerinnen und Musiker haben Nerven wie Stahlseile – viele halten dem Leistungsdruck nicht stand und entwickeln psychische Erkrankungen. Und dies in einem Maße, das Mediziner und Psychologen alarmiert.
"Die Angst zu versagen, ist enorm", sagt die Psychotherapeutin Heidi Brandi, die in Hamburg eine Musikerambulanz leitet. "Ängste, Depressionen, Burnout und Schmerzsyndrome treten ungefähr viermal so häufig auf wie in der Normalbevölkerung. Und um es auf den Punkt zu bringen: Wenn 120 Individualisten als Team sehr eng miteinander sehr hohe Leistungsorientierung bringen müssen – daraus ergibt sich eine stark erhöhte Stressreaktionsbereitschaft."

"Wer schwach ist, wird abgelehnt"

Ein erster große Schritt zur Hilfe sei die Selbsthilfe – indem die Betroffenen das Problem erkennen würden und von sich aus Hilfe suchten. Corona und der Lockdown im Kulturbereich hätten die Situation für viele noch verschärft. "Ich haben noch nie so viel gearbeitet wie in diesem Quartal", sagt Heidi Brandi. Zugleich werde das Thema "Psychische Erkrankung" in den Orchestern jedoch stark tabuisiert, vor allem wegen des Leistungsdrucks, der es kaum erlaube, Schwäche zu zeigen.
"Wer schwach ist, wird abgelehnt", erklärt die Therapeutin. "Und er wird dann auch als Persönlichkeit abgelehnt. Und das kann sich keiner leisten, wenn er über 30 Jahre unabdingbar in einer Gruppe agiert. Schwäche gefährdet auf jeden Fall die Identität und bringt auch das Gesamtergebnis des Orchesters in Gefahr."
Die Rahmenbedingungen seien in der klassischen Orchestermusik anders als im Popbereich, wo nicht über Jahrzehnte so viele Musiker fast täglich eng beieinanderhockten. Sie habe die große Hoffnung, dass sich die Einstellung in den Orchestern auch durch die Existenz von Musikerambulanzen allmählich ändern werde.
Vor allem aber: Es brauche einen Verhaltenskodex in großen Orchestern, der den Umgang mit psychischen Problemen klar regle, fordert Heidi Brandi.
(mkn)
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