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Sturz ins Nichts

Der schmerzhaften Knochentuberkulose, an der er nach zehnjährigem Leiden 1938 mit nur 29 Jahren starb, hat M. Blecher ein schmales, staunenswertes Werk abgerungen. In den DREIßIGERJahren erschienen ein Gedichtband sowie die Romane "Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit" und "Vernarbte Herzen", und aus dem Nachlass wurden Aufzeichnungen aus Sanatorien herausgegeben. Dieses Sanatoriumstagebuch ist nun auf Deutsch erschienen.

Von Jörg Plath | 25.02.2009
    Als er 19 Jahre alt war und in Paris Medizin studieren wollte, diagnostizierte man bei M. Blecher Knochentuberkulose. Man schickte ihn in ein Sanatorium in Frankreich, dem zwei weitere in der Schweiz und in Rumänien folgen sollten, bevor Blecher 1938, mit nicht einmal 30 Jahren, starb.

    Lange Monate verbrachte der Kranke liegend auf einer Bahre. Immer wieder musste er komplizierte Eingriffe über sich ergehen lassen. Abszesse quälten ihn, seine Gelenke versteiften, Muskeln schwanden. Dennoch schrieb der Todkranke Gedichte, die Romane "Bericht aus der unmittelbaren Unwirklichkeit" und "Vernarbte Herzen" sowie ein Sanatoriumstagebuch, das jetzt unter dem Titel "Beleuchtete Höhle" auf Deutsch erschienen ist.

    Anders als im "Zauberberg" Thomas Manns sind diese Sanatorien keine Orte, an der der bürgerlichen Gesellschaft der Krankenschein ausgestellt wird - bei Blecher sind es viel zu oft Totenscheine. Die Aufzeichnungen steuern immer wieder auf letzte Fragen zu.

    Anfangs liegt Blecher frisch operiert im Bett. Seine Gedanken kreisen um einen Schluck Wasser, den er nicht trinken darf, während im Nebenzimmer einem Patienten die letzte Beichte abgenommen wird. Im selben Augenblick, als Blecher schließlich gierig aus der Wasserflasche trinkt, stirbt sein Nachbar. Eine niederschmetternde Gleichzeitigkeit:

    Deshalb verstehe ich nicht, was um mich herum geschieht und "falle" stets zwischen die Geschehnisse und Dekors, zwischen Augenblicke und Menschen, zwischen Musiken und Farben, immer im Taumel, Sekunde für Sekunde, immer tiefer, ohne Sinn, wie in einen Tümpel, dessen Ränder ausgemalt sind mit Geschehnissen und Menschen, und mein Sturz ist nichts als ein schlichter Übergang und eine schlichte Flugbahn ins Nichts, und doch begründet er das, was man bizarr und ohne jede Rechtfertigung "mein eigenes Leben" nennen könnte.
    Im Schrecken über die allgegenwärtige Simultaneität von Sterben und Leben sieht Blecher seine eigene Existenz nicht als sinnvolle Abfolge von Stationen, sondern als einen Sturz ins Nichts. Das ist eine Antwort auf die Frage nach Wirklichkeit oder Unwirklichkeit, die der Titel des Bandes "Beleuchtete Höhle" mit seiner Anspielung auf Platons Höhlengleichnis stellt. Eine zweite Antwort findet Blecher in dem "Hautsack", der seinen Körper einschließt, in der Illuminierung der Innenwelt, den Träumen, den Imaginationen und den Sehnsüchten. Sie durchdringen beständig die Außenwelt, das Wachen, die Wirklichkeit.

    Ich glaube, es ist das gleiche, ob man nun eine Begebenheit erlebt oder träumt. Häufig träume ich im Schlaf Gedichte von phantastischer Schönheit, mit klaren Sätzen und nie dagewesenen Bildern, die ich mit der gleichen Sicherheit wiedergeben kann, mit der ich, Buchstabe für Buchstabe, diesen Satz schreibe. Außerdem mag ich die Vorstellung, dass es in der Welt des Schlafes wenigstens eine Gedichtsammlung von mir gibt, welche die Schlafenden in ihren Albträumen lesen.
    Der Sturz ins Nichts, der Tümpel, der Hautsack, dazu die "Trauer über die verronnene Zeit", der Traum, am Ende dann die Auflösung im Morast - M. Blecher, der seinen Vornamen Max nicht mochte und daher stets abkürzte, ist unverkennbar ein Zeitgenosse der Moderne, des Surrealismus vor allem. Er hat Marcel Proust gelesen und wohl auch Zivilisationskritiker wie Gottfried Benn. Nur kennt das junge rumänische Genie die Welt allein aus der Perspektive der Krankheit. Was anderen beschleunigte Zeiterfahrung, Dekadenz und Zweifel am Ich bedeutet, ist ihm das reihenweise Sterben von jungen Menschen. Deren Schicksal verzeichnet "Beleuchtete Höhle" in reicher Zahl: Ein kleiner Junge ist darunter, der unmenschliche Schmerzen erleidet und den sein syphiliskranker Vater nicht einmal küssen darf. Und eine Tänzerin, die ihr Bein verliert und die doch am meisten schmerzt, dass sie ihr Schicksal nun dem Geliebten nicht mehr verbergen können wird.

    Was den Künstlern jener Zeit die Schocks der Wirklichkeit sind, entnimmt Blecher der völlig unsentimentalen Beobachtung seines eigenen Leids. Seine illusionslose Prosa scheint zuallererst durch eine ins Unmenschliche gesteigerte Selbstbeobachtung zu entstehen. Blecher richtet das "helle Licht des Verstandes" auf den Schmerz:

    Und sieh an, wenn der Schmerz in meinen kranken Schenkel schoss, gab ich jede Lektüre, jede Konversation und vor allem jeden eigenen inneren Gedanken auf und verlegte mich darauf, seine Mäander in dem abstrakten und dunklen Raum zu verfolgen, in dem er stattfand; er war wie ein feiner Wasserlauf, der heiß im Schenkel entsprang und aus dem sich Tropfen und kleine Rinnsale wie in einem Wasserspiel in alle Richtungen verzweigten; dann kam mitunter ein lebendigerer Schmerz wie eine Verdickung jenes Einschusses und wie ein Fächer von Stichen, die im Fleisch widerhallten. Nun kannte ich die "Kontur" des Schmerzes, und ich musste ihr nur noch mit geschlossenen Augen folgen, wie einem Musikstück, und versuchen, aufmerksam auf alle Ton- und Intensitätsvariationen zu "hören", wie ich den Modulationen und Auffächerungen eines Konzertstückes mit den gleichen Wiederholungen und Themen folgte. Weil dies aber nicht ausreichte und um einen Ausgleich für das Leid zu schaffen, drückte ich mit ungeheurer Gewalt den kleinen Finger meiner rechten Hand.
    Dank des jahrelangen Einsatzes seines Wiederentdeckers und Übersetzers Ernest Wichner liegt M. Blechers schmales Werk nun bis auf einen Gedichtband vollständig auf Deutsch vor. Es eröffnet den Blick auf eine Welt ohne Moral, aber nicht ohne Mitgefühl. Es gibt in ihr auch das heftige, keinen Aufschub duldende Begehren nach einer Frau und die Eifersucht auf ihren Verlobten. Aber beides überwölbt ein schneidend scharfes Bewusstsein der Sinnlosigkeit allen Tuns. M. Blecher hielt am Schreiben fest wie an einem Wahn, obwohl er glaubte, seine Visionen gingen wie "phosphoreszierende Teilchen" im nächtlichen Dunkel unter.

    M. Blecher: "Beleuchtete Höhle. Sanatoriumstagebuch", Aus dem Rumänischen und mit einem Nachwort von Ernest Wichner. Bibliothek Suhrkamp. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2008. 202 S., 14,80 Euro