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Stuttgarter Doppel

In Stuttgart gab es eine Doppelpremiere: Im Schauspielhaus einen "Faust 21", ein Stück über den ungestümen Drang alles sofort haben zu wollen, Geld, Gott und Glück. Im Kammertheater hat Soeren Voima nach Motiven von Cervantes "Don Quixote" das Leben des unwirklichen Individualisten für den Neuzeit in Worte gefasst. Fazit: Gelungenes Theater.

Von Cornelie Ueding | 26.02.2006
    Ein doppeltes Hoffnungszeichen gibt es aus Stuttgart zu vermelden: sieht es doch so aus, als wären nun die Tage der aufgesetzten, plakativen, vordergründig munteren Aktualisierungen gezählt - und das Theater fände wieder, im wahrsten Sinn des Wortes, zu sich selbst, zu den eigenen Möglichkeiten zurück, ohne sein gesellschaftliches und politisches Potenzial einzubüßen. Im Gegenteil: Don Quixote und Faust - die Protagonisten prallen beide hart auf die Wirklichkeit Deutschland 2006. Autor Soeren Voima hat seinen Don Quixote witzig, klug und einfallsreich in ein prolliges Gartenlauben-Spießer-Zuhälter-Milieu versetzt und lotet den Restspielraum für Individualisten aus. Corinna Harfouch ist in Christian Weises Uraufführungsinszenierung der Herr Ritter von der traurigen Gestalt, ein androgynes Wesen von bizarrer Fremdheit, im bürgerlichen Leben Filialleiter im Ruhestand, einer, der auf einem Pferd in glänzender Ritterrüstung auf die Mohnblumenwiesen-Bühne reitet und am Ende auf der Marionettenbühne ein Schaukelpferd besteigt und ins All entschwebt. In seinen Aktionen entfaltet er, ebenso gewalttätig wie bedauernswert, eine beträchtliche Spannweite zwischen Schlagen und Geschlagen-Werden, schwankt in seinem Auftreten und Sprechduktus zwischen Verfolgungswahn, zackiger Radikalkritik, formvollendeter Ritterlichkeit und großem Jammer. Was ist Einbildung - was Wirklichkeit in der Medienwelt, wo fast jeder um seine Wahrnehmung gebracht wird? Voima hat den voluminösen Prosatext auf wenige Szenen verdichtet und an bewährten Theaterformen von Büchner bis Bernhard, von Shakespeare bis Botho Strauß gespiegelt, die nun im Stuttgarter Kammertheater in allen möglichen illusionären Konfigurationen, Verdoppelungen und einem Spiel im Spiel virtuos durchgespielt werden.

    Nicht anders als in Volker Löschs Faust 21, wo dieser deutscheste aller Mythen sich als ideales Medium erweist, brennend aktuelle Gegenwartsprobleme aufregend unaufgeregt anschaulich zu machen. Geringe Verschiebungen genügen - und es funkt. Philemon und Baucis - das ist kein uraltes, sondern ein ganz junges Paar, zwei Alternative mit Gitarre, Gesundheitstee, Indianer-Zelt und rührend nostalgischen Protestsongs - Individualisten ohne Zukunft. Als sie nicht freiwillig, d.h. gegen ein paar Bündel Geldscheine, das Feld räumen, werden sie umstellt, zur Flucht gezwungen und abgeknallt. Hinter der Bühne. Wo’s kaum mehr einen interessiert in der schönen neuen Wirtschaftswelt. Individuelle Nischen sind "out". Faust ist schließlich auch kein einzelner Suchender mehr, sondern ein Kollektiv. Ein Chor. Ein Chor aus Schauspielern und Stuttgarter Bürgern. Euphorion, Frau Sorge und ein paar weitere einzeln hervortretende Figuren sind, wie auch Mephisto, Teil dieser Masse Menschen, die den Faust-Chor bilden. Ebenso die Mütter, Verfechterinnen einer ökonomischen Logik des Krieges:

    Mephisto kommt in Bedrängnis: schnell hat der Entertainer ausgespielt, sind die Tricks und Phrasen des Coach der Schnee von gestern, und er muss zu immer rabiateren Mitteln greifen, um mit dem rastlos zu neuen Zielen vorwärts drängenden 'Prinzip Faust’ Schritt zu halten. Schon rein zahlenmäßig ist er unterlegen und am Ende wird die auf gerade mal drei Schauspieler aufgeteilte Figur mit ihren Ansprüchen auf Fausts Seele einfach beiseite geschoben: Erfolgs- und Gewinnstreben gehen über so antiquierte Fragen wie die nach dem Seelenheil hinweg. Volker Lösch hat Goethes Faust II nach Kategorien wie Geld, Macht, Kunst, Herrschaft, Ewigem Leben durchforstet und fokussiert, das Werk radikal verknappt und an zeitgenössischen Diskursen zu diesen Themen gespiegelt. Chorische Deklamation gebundener Rede wechselt mit skandierter Prosa von zuweilen archaischer Wucht, Cafeteriaunterhaltung in Jamben mit einer Satire auf selbstwertsteigernde Trainingseinheiten für Erfolgssucher; Einzelrede mit Gruppenmeinung. Und dabei reflektiert dieses formbewusste Theater nicht nur die Wirkungen der Globalisierung, sondern in verschiedenen Theaterspielformen und Konstellationen das eigene Medium.