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Subtile Meisterschaft der Dialoge

Auf den ersten Blick könnte es ein Roman aus dem 19. Jahrhundert sein: Diese kultivierte großbürgerliche Gesellschaft, die den Sommer auf einem Landgut im Havelland verbringt, wäre auch bei Fontane denkbar. Doch der Eindruck trügt. "Nach fünf Jahren", dieser Geniestreich eines 27-jährigen Autors, ist knapp und dicht erzählt, mit einer psychologischen Direktheit, die keine Zweifel aufkommen lässt an seiner Modernität, obwohl er bereits 1933 geschrieben wurde.

Von Gernot Krämer | 12.01.2009
    Gleich auf der ersten Seite wird mit lakonischer Beiläufigkeit der historische Rahmen skizziert: Es sind die Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Später lesen wir von der großen Inflation, doch auch das ist nur eine Art Hintergrundrauschen für dieses Kammerspiel mit sechs oder sieben Hauptfiguren.

    Der Ich-Erzähler heißt Peter; den Namen erfährt man originellerweise erst auf Seite 118. Peter also ist dreizehn, als er zum ersten Mal seine Cousine Victoria auf ihrem Gut Wolkin besucht und die kleine Gesellschaft kennenlernt, mit der sie sich umgibt: den Pfarrer Dr. Kindsberg, seine Nichte Isolde, ihren Vater, den pensionierten Landrat Perbom, und den Gutsbesitzersohn und Möchtegernkünstler Robert. Mit der Sensibilität des Frühreifen errät Peter, dass die Halbwüchsigen Isolde und Robert ein Verhältnis haben:

    "[Robert] schwieg, als Isolde sprach. Ihr Sprechen war ein ängstliches Verhüllen. Was mich wunderte, war, dass Victoria das nicht zu bemerken schien. Diese Kinder - 'Kind' nur noch in ihrer Abhängigkeit - hatten ein Geheimnis zu hüten. Es war klar, welches. Ich fühlte mich ihnen spontan verbündet in Mitleid. Das klingt seltsam. Aber mit dreizehn Jahren kann man noch eine milde, fast göttliche Überlegenheit über die Übel des Geschlechtlichen beweisen, die man bereits ahnt, theoretisch auch kennt - eine süße Überlegenheit, die noch lange zu dauern keineswegs bestimmt ist."

    Der Grund, warum die stets etwas zerstreute Victoria nichts mitbekommt von dieser Liaison, wird denn auch bald offenbar: Sie ist selbst seit Jahren unglücklich verliebt in den Dichter Anton Mühsal, der sich ihre Liebe gefallen lässt, ohne sie zu erwidern. Durch seine Ankunft in Wolkin brechen kaum verheilte Narben wieder auf; vergebens heuchelt Victoria Kälte und Gleichgültigkeit. Mit einem gewissen Grauen bemerkt Peter die Veränderung in ihrem Wesen, die um so verwirrender erscheint, als Mühsal doch eigentlich eine harmlos-liebenswürdige, im schlimmsten Fall eitle Natur ist.

    Doch es gibt eine dritte Liebesbeziehung, die noch viel geheimer und komplexer ist, nämlich die des Pfarrers Andreas Kindsberg zu seiner Nichte Isolde. Diese halb väterlich-beschützende, halb eifersüchtige Liebe wird just durch ihre Unerfüllbarkeit zum Fluch. Die Liebenden des Romans sind allesamt dazu verurteilt, immer wieder zu zweifeln. So Robert, der sich verraten fühlt, als Isolde mit ihrem Onkel nach Paris reist - ohne zu ahnen, dass sie fort will, weil sie schwanger ist. So Isolde selbst, die sich nicht entscheiden kann und Robert später bloß heiratet, weil es ihr "normal" scheint. So Kindsberg, der sich ebenfalls in eine Ehe flüchtet. So schließlich auch der Ich-Erzähler, der eine Art Jungenfreundschaft mit Robert pflegt, sich dann aber in Isolde verliebt.

    Die wirklich erstaunliche Kunst Herbert Schlüters besteht darin, der Handlung immer neue Wendungen zu geben, die zwar überraschen, aber doch vollkommen plausibel, ja notwendig scheinen. Nichts wirkt forciert oder unwahrscheinlich. Und es passiert eine ganze Menge auf den nicht einmal 200 Seiten. Mit subtiler Meisterschaft nutzt er den Dialog. Dazu kommen ein beachtliches Geschick bei der Gestaltung der Figuren und eine souveräne Komposition. Die zweite Hälfte des Romans spielt nach fünf Jahren - daher der Titel. Wieder ist der Erzähler zu Gast in Wolkin, doch der Zauber von einst ist verflogen:

    "Das Leben in diesen Tagen hatte wenig Ähnlichkeit mit dem vor fünf Jahren. Scheinbar war ja die Situation nicht allzu verschieden. Aber während damals alles, was geschah, einen gleichsam lyrischen Unterton hatte, was nicht nur daran lag, dass die Beziehungen meiner Freunde damals noch in einem vagen Anfang standen, sondern mehr noch an meinem eigenen kindlichen Alter, so war jetzt bereits etwas von Unabänderlichkeit über allem. Und ich selbst war inzwischen fähig geworden, etwas von der Gesetzmäßigkeit des Schicksals, ich möchte sagen: von seiner Mechanik, zu verspüren."

    Der melancholische Freigeist Robert hat das väterliche Gut geerbt und ist ein bigotter Junker geworden, der sich das Leben mit einer Geliebten versüßt, aber eifersüchtig ist auf seine Braut. Isolde - übrigens eine herrlich kapriziöse Gestalt, eine der stärksten des Romans - schäkert mit dem Ich-Erzähler, umgibt sich aber mit Geheimnis. Den Dichter Anton Mühsal, den er vor fünf Jahren noch bewunderte, durchschaut Peter nun in seiner Mittelmäßigkeit. Victorias Leiden hat sich verschlimmert. Ihr Ende ist eine Art Liebestod; wie viele Romanheldinnen des 19. Jahrhunderts stirbt sie an einer Krankheit, die physiologisch nicht hinreichend zu bestimmen ist. Doch bei Schlüter wird das an sich konventionelle Motiv gleichsam in Gänsefüßchen präsentiert: Ihr Arzt ist Psychoanalytiker - das Leiden ist nicht mehr romantisch, sondern schlicht ein Therapiefall.

    Wie kommt es, dass dieser wunderbare Roman nicht viel bekannter ist? Schlüter hatte ihn 1933 fertig, bevor er nach Paris emigrierte. Sein Verlag jedoch, S. Fischer, fand nach längerem Überlegen, dass er nicht mehr in die Zeit passe, und lehnte ab. Ein trauriges Beispiel verlegerischer Selbstzensur. Erst 1947 kam das Buch heraus, dann noch einmal 1972. Passte es wieder nicht in die Zeit? Es scheint so. Hoffentlich ist sie jetzt endlich gekommen.

    Herbert Schlüter: Nach fünf Jahren, Roman, Lilienfeld Verlag, 190 Seiten, 19,90 Euro