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Suche nach dem eigenen Zuhause

So weit in dem Buch "Café Heimat" die Wege auch in alle Welt führen mögen, insgeheim bleibt es stets auf dem vertrackten Terrain einer deutsch-jüdischen Existenz in der dritten Generation nach der NS-Zeit. Dabei erzählt Louise Jacobs kaum einmal von sich, sondern taucht selbst höchstens als reisende Reporterin am Rand des familiären Panoramas auf. Und dieses Panorama vor Augen zu führen, ist ihr auch sehr anschaulich gelungen.

Von Uwe Pralle | 16.02.2007

    "'"Es scheint ein Tag wie jeder andere zu sein [...] Es ist der 15. November 2004, elf Uhr vormittags. Ich sitze in Bremen an einem Ort, wo die Welt noch in Ordnung zu sein scheint - ich sitze am hintersten Tisch im Nichtraucherabteil der Konditorei Knigge. Hier kann man alles um sich herum vergessen, es könnte im Jahr 1920, aber auch 2004 sein.""

    So beginnt in geradezu klassischem Reportagestil Louise Jacobs Buch "Café Heimat", und dieser Stil zieht sich durch es hindurch, gleich ob Louise Jacobs in Hamburg, Lissabon, New York oder Rio de Janeiro die Spuren der mütterlichen Linie ihrer Familie sucht oder im niedersächsischen Borgfeld und Bremen die der väterlichen Linie, wie eben in der aus der Zeit gefallenen Bremer Konditorei, wo sie sich mit der ehemaligen Sekretärin ihres Großvaters traf. Allerdings ergänzt den journalistischen Ton ihres Buchs immer auch ein literarischer.

    "In der Literatur spielt doch die Fantasie eine große Rolle, und die habe ich hier auch einsetzen müssen, weil Erinnerung auch von den Menschen, mit denen ich gesprochen habe, deren Erinnerung ist ja auch immer ein Stück weit Fantasie. Insofern habe ich damit auch sehr gerne gespielt, da spielte sich vieles auch in meiner Fantasie ab."

    Louise Jacobs, 1982 geboren und in der Schweiz und den USA aufgewachsen, ist nicht nur die Enkelin des Bremer Kaffeefabrikanten Walther Jacobs. Mütterlicherseits sind ihre Vorfahren die Jessuruns, eine Familie sephardischer Juden, die sich im 17. Jahrhundert in Hamburg ansiedelten und dort lange als Kaufleute ein großbürgerliches Leben führten, bis sie in der NS-Zeit erneut in die Fremde getrieben wurden.

    "Das Fremdsein und wahrscheinlich durch das Fremdsein auch die Suche nach der Heimat, nach einem Zuhause - mein Großvater Jacobs, der war immer in Bremen zuhause, der ist da geboren und ist da gestorben, und meine Großmutter, ja, die lebte in Lissabon, die lebte in New York, die lebte in Nicaragua, die lebt heute in Bremen. Und ich habe mich sehr oft gefragt, als ich an dem Buch gearbeitet, wo sie sich heute eigentlich zuhause fühlt; und habe das auch mich gefragt, also wo fühle ich mich heute zuhause?"

    Um das ausloten zu können, war für Louise Jacobs Fantasie nötig, und diese Fantasie mit ihren literarischen Möglichkeiten spielt in dem ein Jahrhundert umfassenden Panorama dieser Familiengeschichte auch deshalb keine geringe Rolle, weil ihre Zerklüftungen manchmal schon selbst fantastisch wirken:

    "Es sind beide Geschichten, also die Geschichten beider Familien, die einen Stammbaum im 20. Jahrhundert schreiben, wie er eigentlich nur in Deutschland zu finden ist. Die Geschichte der Jacobs ist total langweilig. Die waren immer in Bremen und sind dort immer geblieben. Aber der Kontrast zweier deutscher Familien, wo die eine auswandern musste und die andere eben in Deutschland sehr erfolgreich wurde, das ist das Interessante."

    Ganz so langweilig ist die Geschichte der Jacobs für sich genommen auch nicht, die immerhin davon zu berichten gibt, wie ein hanseatischer Kaffeeimporteur im Stil des klassischen Firmenpatriarchen zielstrebig ein großes Unternehmen aufbaute. Eine ausgefeilte Firmengeschichte sollte allerdings nicht erwartet werden, denn für die Enkelin haben andere als nur zeitgeschichtliche Aspekte in diesem Buch eine wesentlich größere Rolle gespielt. Vor allem ist es ihre eigene Zerrissenheit zwischen den im Exil in alle Welt verstreuten Jessuruns und den stets im Bremer Land gebliebenen Jacobs, die sowohl ihren Blick auf die Vorfahren als auch den Erzählduktus der sich abwechselnden Kapitel über beide Familienstränge bestimmt.

    "Die Zerrissenheit habe ich während der zweieinhalb Jahre, die ich an diesem Buch saß, eigentlich auch gespürt und habe die vielleicht auch versucht zu flicken. Auch als ich in Rio war, in Brasilien, wo meine Urgroßmutter auf dem Friedhof liegt und Eva, die Schwester meiner Großmutter, fast 50 Jahre gelebt hat, und man dahin kommt und schon das Gefühl hat: Hier wurde gelebt, hier hat auch Familie gelebt, und man denkt: Mein Gott, wie bist du eigentlich nach Europa gekommen oder wie bist du überhaupt dahin gekommen, wo du jetzt bist."

    So weit in diesem Buch die Wege auch in alle Welt führen mögen: Insgeheim bleibt es stets auf dem vertrackten Terrain einer deutsch-jüdischen Existenz in der dritten Generation nach der NS-Zeit. Dabei erzählt Louise Jacobs kaum einmal von sich, sondern taucht selbst höchstens als reisende Reporterin am Rand des familiären Panoramas auf; und dieses Panorama vor Augen zu führen, ist ihr auch sehr anschaulich gelungen, ob in der Zeit vor Hitler, im Exil, während des Krieges und in der Nachkriegszeit, als sich die Wege der Jessuruns und Jacobs schließlich kreuzen konnten, nachdem die noch in Hamburg geborene Großmutter Ann in Nicaragua einen Bremer Kaufmann kennen lernte, mit dem sie eine Familie gründete und nach Deutschland zurückkehrte - schon das eine höchst diffizile Geschichte:

    "Sie kam ja nun aus Nicaragua und war als Kind schon katholisch gefirmt worden. Also ich habe mich sehr oft gefragt, was eigentlich meine Oma dann war, als sie nach Bremen kam: Sie war keine Deutsche mehr, sie war vielleicht Amerikanerin, aber auch nicht richtig; sie war keine Jüdin mehr, ist aber auch nicht richtig Katholikin. Also das ist schon unglaublich, und vielleicht findet man dann in sich selbst eine andere Identität, also nicht über die Religion; aber in Bremen in den 60er Jahren, eine konservative Gesellschaft, können Sie sich vorstellen, was sie sich da anhören musste an diversen Abendanlässen über die Juden - ja, da ist der einfachste Umgang in der Tat, dass man einfach nicht mehr drüber spricht."

    Genau hier liegt der archimedische Punkt dieses Buches: nämlich das Schweigen, das in ihrer Familie über alles gewahrt wurde, was mit der Vergangenheit zusammenhing, so als sei es der Preis dafür gewesen, dass nicht nur die Großmutter Ann nach den Exiljahren in Bremen leben konnte, sondern auch die Eltern von Louise Jacobs schließlich ihre Ehe eingehen konnten, nämlich Anns Tochter mit dem jüngsten Sohn des Bremer Kaffeefabrikanten Walther Jacobs:

    "Also ich empfinde es heute noch mal stärker als in meiner Kindheit, und ich weiß heute noch mal stärker, was es eigentlich bedeutet hat, dass wir zuhause kein Wort darüber verloren haben. Es ist als Außenstehender nicht nachvollziehbar, aber es war so! Es ist wahrscheinlich in der Tat so, weil diese beiden Familien nicht zueinander gefunden haben. Mein Vater hat meiner Mutter immer gesagt, seine Familie ist die Familie meiner Mutter, und meine Mutter hatte einen Schwiegervater, der sie auch nur sehr schwer akzeptieren konnte. Und vielleicht haben meine Eltern entschieden, eine völlig neue Identität zu leben, was aber dann eben auch bedeutet hat, sich von der Geschichte abzukapseln. Das merke ich heute, dass mir das als Kind zwar irgendwie auch gut getan hat, weil ich nicht im Schatten dieser Geschichte aufgewachsen bin, aber der selbstverständliche Umgang mit Vergangenheit und auch zu lernen, stolz zu sein auf so eine Geschichte, das hat mir gefehlt."

    Das in diesem Buch entworfene Familienpanorama schwebt also wie eine Fata Morgana über dem Abgrund von Schweigen. Das Drama, die im Gedächtnis versiegelte Familiengeschichte nur in der Fantasie noch einmal zum Leben erwecken zu können, wird immer dann besonders deutlich, wenn sie auf ihren kreuz und quer durch die Welt führenden Reisen zu den Gräbern ihrer Vorfahren kommt. Denn nur die Existenz dieser Gräber beweist ihr, dass diese Familiengeschichte mehr ist als ihre Einbildung, ob nun das Grab ihrer Großtante in Rio oder das ihres Urgroßvaters in New York:

    "Eine gute halbe Stunde später stehe ich im warmen Licht des Herbsttages vor dem Tor des Maple Grove Cemetry. Ich betrete den Friedhof und plötzlich liegt sie vor mir, die Platte von Fred M. Jessurun. Mit einem Schlag löst sich meine Anspannung. Und im nächsten Moment bereue ich, keine Blumen dabei zu haben - seltsam, dass ich nicht daran gedacht habe. Mit leeren Händen stehe ich am Grab meines Urgroßvaters und starre auf die mit Serifen versehenen Buchstaben. Es ist nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Mein Blick ist auf die Platte gerichtet. Da liegst du also, Fritz Moritz alias Fred Milton, denke ich, ganz alleine, im Schatten eines hohen Baums in Queens, New York, auf dem Maple Grove Cemetry."

    Auch wenn Louise Jacobs in diesem Buch von sich nur selten spricht: Trotzdem zeigt der Feuereifer, mit dem sie sich auf die verwischten Fährten dieser Familiengeschichte begeben hat, dass es letztlich um nicht weniger geht, als die Zeit aus den Angeln zu heben und ihren Vorfahren zu begegnen - und sei es in der Fantasie.

    "In New York hatte ich das erste Mal eigentlich bewusst Kontakt - in Anführungsstrichen - mit meinem Urgroßvater, weil ich ganz bewusst vor diesem Grab stand und wusste, es hat ihn gegeben. Und ich wusste, die Geschichte ist passiert. Ein gewisser Antrieb natürlich ist, dass man Dinge begreifen will, dass man sie wirklich be-greifen, also man will sie anfassen, man will sie erleben, und wenn es nur in der Fantasie ist. Wenn ich nur die Gespräche mit meinem Urgroßvater in meiner Fantasie führe - aber ich musste sie einfach führen."

    "Café Heimat" legt nicht nur frei, wie diffizil es in einer deutsch-jüdischen Familie in der Nachkriegszeit war, ein vor dem Gift des Vergangenen behütetes Leben hinzubekommen. Vielmehr zeigt das Buch, dass selbst drei oder vier Generationen später die damals pragmatisch vorgenommene Abkehr ins Schweigen unvermindert Nachwirkungen hat.

    "Das fing schon damit an, dass ich in der Schweiz, da wo ich geboren und aufgewachsen bin, nie zuhause war und ich immer wusste, dass ich irgendwo anders zuhause bin. Und dann habe ich sehr lange immer gesucht nach diesem Zuhause - das muss jetzt nicht örtlich sein, sondern auch so einem inneren Zuhause. Und dann hat sich mir vieles erklärt, als ich die ersten Fotos von meinem Urgroßvater sah und dieses Gesicht von ihm und den Blick von ihm und mir eigentlich erst bewusst war, was Geschichte bedeutet, also was auch Judentum bedeutet und was Exil bedeutet. Weil dieser leere, traurige, unheimlich verlorene und stolze Blick, also das hat mich - und dann natürlich in Verbindung mit seiner Person und seinem Charakter - noch mal mehr zerrissen in diesem Jüdischsein und im Hanseatisch-Norddeutschsein, weil ich nun aus so einer Familie auch stamme."

    Louise Jacobs: Café Heimat. Die Geschichte meiner Familie
    Ullstein Verlag, Berlin 2006
    398 Seiten, 19,95 Euro