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Suche nach dem Weg ins Leben

Georg Seidel starb Anfang Juni 1990, ein halbes Jahr nach der Wende, im Alter von 44 Jahren. Er hinterließ mehrere Theaterstücke, die an verschiedenen Bühnen der DDR aufgeführt - teilweise unter Schwierigkeiten. Jetzt ist "Jochen Schanotta" in Berlin zu sehen.

Von Hartmut Krug | 19.12.2011
    Es ist eine Lust, Georg Seidels Theatertexte zu lesen. Weil da jemand die Welt erfasst mit seinen Fragen und sie bannt mit der Sinnlichkeit seiner Sprache. Doch die Stücke des 1990 verstorbenen poetischen Realisten Georg Seidel werden kaum noch gespielt. Weil der in Dessau geborene und lange zunächst als Beleuchter, dann als Mitarbeiter der Dramaturgie am Deutschen Theater arbeitende Seidel seine Texte mit den Erfahrungen seiner Gesellschaft schrieb. Und die hieß nun einmal DDR. Dabei durchleuchten Seidels Texte stets die grundsätzlichen Fragen jeder Gesellschaft.

    Jochen Schanotta sucht seinen Weg ins Leben. "Immer war er vorneweg, Vorbild, kein Grund zur Klage" sagt sein Lehrer. Doch dann will er sich selbst finden. Schon in Schanottas Umformulierung eines realsozialistischen Spruches stecken Sprengkraft und Beschränkung zugleich: "Der Mensch ist der Mittelpunkt aller Dinge. Ich." Ein Kämpfer vermag er nicht zu sein, aber ein Suchender. Wenn der kraftvolle Schauspieler Andreas Döhler seinen Schanotta dessen erste Erinnerung an kindliche Domestizierung zur Uniformität gleich dreimal erzählen lässt, humoristisch thüringisch, heftig empört oder still in sich ruhend, bilanziert er schon zu Beginn: "Man hätte das nie mitmachen dürfen." Um am Schluss zu konstatieren:

    "Alle haben uns gesagt, sie erwarten sehr viel von uns, gar nichts haben sie erwartet – Rotz haben sie uns auf die Backe geschmiert, und wir haben ihn hochgezogen bis ins Hirn. Gleichschritt, Klette."

    Schanotta fliegt von der Schule, lernt Klette kennen, zieht mit ihr rum und später bei ihr ein, versucht vergeblich wieder auf die Schulbank zu kommen, scheitert auch an der Werkbank und wird schließlich von der Wehrpflicht eingefangen. Gut, die Wehrpflicht gibt es nicht mehr. Und auch der Satz "alles mit Draht umwickelt, das Land, damit's nicht auseinanderfällt" (ein Zitat, das neben anderen eine staatliche Kampagne gegen das Stück und eine das Stück verfälschende Uraufführung 1984 am Berliner Ensemble zur Folge hatte), der ist nicht mehr aktuell. Doch das Eingesperrtsein in der Zwangsfalle des Funktionierens, das Frank Abts auf anderthalb Stunden konzentrierte und spielerisch lockere Inszenierung verdeutlicht, das kennt man auch in der neuen, realkapitalistischen Gesellschaft. Auch sein gutmeinender Lehrer hilft Schanotta nicht:

    Körner:"Ja, Jochen, willst Du die Welt ändern?"

    Schanotta: "Ich und die Welt ändern. Ein so kleiner Kopf und eine so große Welt. Oder hätte ich die Faust nehmen sollen, die ist noch kleiner. Wie wird man ein anständiger Mensch heutzutage? Es gibt Fertigsuppen, Schnellreinigung, Synchrongetriebe. Und wer einen Feind hat, der hat immer ein Ziel."

    Grandios dann die Szene, in der zwei Arbeiter von einem Film erzählen, der sie beeindruckt hat. Dazu stellen sich die Schauspieler in einer Reihe vor das Publikum und erzählen den Film: zwei Männer saufen, sonst passiert nichts, und zu sehen ist auch meist nichts. Das Ganze: ein Bild ihrer Lebenssituation.

    In den Kammerspielen des Deutschen Theaters sitzt das Publikum auf der Bühne und schaut auf eine Spielanordnung, deren einzelne Kapitel angesagt werden. Die Schauspieler treten von ihrer Stuhlreihe am Bühnenrand vor das Publikum und wechseln von der Erzählung ins Vorspiel. Eine Wand im offenen Raum, auf der einen Seite die Mutter, auf der anderen Schanotta: so werden eine Beziehung und eine Situation benannt. Kabarett gibt es hier nicht, nur stillen Humor, wie in der Musterungsszene. Und tolle Schauspieler, allesamt. Herrlich, wie unaufgeregt und präzise Natalie Seelig Schanottas Mutter spielt, eine Frau, die sich eingerichtet hat und den Sohn schützen, aber nicht einsperren will. Und Kathleen Morgeneyer spielt eine Klette, die von innen leuchtet und zugleich von ihrem Leben und ihrer Arbeit pragmatisch sagt, "Das ist besser als nichts". Vereinzelt ist auch sie, doch indem sie kämpft, für sich und um Schanotta, stellt ihre Figur eine der Kernfragen des Stücks: Gibt es ein richtiges Leben im falschen?

    Frank Abt hat den Text geschickt bearbeitet. Schön die Vertauschung der Schlussszenen: erst die milde Albtraumszene, in der Mutter und Lehrer den zum Militär gehenden Jochen in ein Kleinstuben-Idyll mit Blümchentapete und Toaster stoßen, dann dessen Traumerzählung von Tod und Sarg, und sein letztes Wort: "Schweigen."

    Frank Abts sensible Inszenierung ist hoch zu loben, denn sie gewinnt einen zu Unrecht vergessenen DDR-Dramatiker für unsere Bühnen, dessen Texte auch unsere Zeit durchleuchten.