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Suche nach einem gemeinsamen Bild

Ein Attentat, ein Vermittlungsversuch der USA - der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern rückt immer wieder schlaglichtartig und schemenhaft ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Eine Gruppe von Wissenschaftlern beider Seiten versucht, ein umfassenderes Bild zu zeichnen.

Von Thomas Kleinspehn | 18.10.2013
    Attentate oder wiederholte Vermittlungsbesuche ausländischer Politiker rücken immer wieder kurzfristig den israelisch-palästinensischen Konflikt in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Dennoch werfen sie lediglich Blitzlichter auf eine seit Jahrzehnten festgefahrene Situation, in der beide Seiten sich an ihren ideologischen Positionen und Vorurteilen festklammern. Von den Wurzeln des Konflikts ist das weit entfernt. Sehr viel weniger spektakulär versuchen dagegen seit über fünfzehn Jahren palästinensische und israelische Historiker und Soziologen einen unvoreingenommenen Dialog zu führen und ein gemeinsames Bild ihrer Geschichte zu finden. Seit 1997 haben sie sich abwechselnd in Ramalah und Jerusalem getroffen, um die Geschichte ihrer Region zu rekonstruieren, die Machtstrukturen offen zu legen und schließlich auch als Wissenschaftler und Bürger ihrer Länder Position zu beziehen.

    "Die historische Rekonstruktion wird zum gemeinsamen historiographischen Bemühen von Individuen, die versuchen, sich von ihrer gegebenen nationalen Position und Identität loszulösen. (…) Dies bedingt auch eine neue Art von Anerkennung der Methoden, mit denen die Geschichte immer wieder in einen Zusammenhang gestellt wird, und, was noch wichtiger ist, der Art, auf die die Machtstrukturen versuchen, den Dialog zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu bestimmen. Und wir erleben mit, wie Veränderungen in den Machtverhältnissen außerhalb der wissenschaftlichen Welt auch Veränderungen innerhalb der Forschungsparadigmen mit sich bringen."

    So umschreiben die beiden Organisatoren der Treffen den Ausgangsgangspunkt ihres Konzepts. Der in England lehrende Historiker, der Israeli Ilan Pappe, und der palästinensische Soziologe, Jamil Hilal, gaben der Gruppe den Namen PALISAD, Palästinensisch-israelischer Akademischer Dialog. Der in den jeweiligen politischen Kulturen so unterschiedlich geprägte Blick auf die gleiche Geschichte sollte in der Diskussion zumindest erst einmal benannt, Verkrustungen sollten gelöst werden. Jetzt sind einige der in diesem Zusammenhang entstandenen Studien auch in einem Band auf Deutsch erschienen. Gemeinsam ist den breitgefächerten Texten der Versuch, sich mit den traditionellen Sozial- und Geschichtswissenschaften auseinanderzusetzen und vor allem die Forschungsparadigmen zu hinterfragen. Denn viele westliche Wissenschaftler gehen aus der Sicht der PALISAD-Autoren vom "Paradigma der Gleichheit" aller beteiligten Parteien in Palästina aus. Sie hätten für den Ausbruch wie für die Lösung des Konflikts die gleiche Verantwortung. Dem widersprechen die Wissenschaftler vehement.

    "Die Realität in Palästina (ist) das genaue Gegenteil – dieser Konflikt ist von Ungleichheit und unterschiedlicher Machtverteilung an allen Fronten geprägt. (…) Das Paradigma der Ungleichheit ist ebenso ungeeignet für die Beschreibung der Realität zwischen Besatzern und Besetzten in der West¬bank und im Gazastreifen seit 1967, ganz zu schweigen von den ungleichen Rechten und dem ungleichen Status, den der jüdische Staat seiner palästinensischen Minderheit seit 57 Jahren aufgezwungen hat."

    Vor dem Hintergrund dieser These untersuchen die Autoren kritisch die Geschichtsschreibung und das politische Denken Israels genauso wie anthropologische Studien zum Leben in Palästina, dem palästinensischen Nationalismus oder Vorstellungen von der nationalen Befreiung. Im Mittelpunkt aber steht in verschiedenen Aufsätzen die Geschichte Palästinas seit dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert. Aus unterschiedlichen Perspektiven machen die Beiträge deutlich, wie sich die Strukturen und die Machtverhältnisse in Palästina schon in den 20er Jahren ganz allmählich verändern. Zionistische Siedler waren im heutigen Gebiet Israels noch lange in der Minderheit. Selbst bei der Gründung des Staates Israel machten sie erst knapp 40 Prozent der Bevölkerung aus. Mit verschiedenen Gewichtungen, aber mit weitgehendem Konsens beschreiben die Historiker dann die Formung Israels als Verdrängung der Palästinenser aus dem Land, in dem sie Jahrhunderte lang gelebt haben. Einzelne Autoren vergleichen das mit der Verdrängung indigener Völker in Amerika oder Australien. Ob man das tatsächlich als "Genozid" begreifen muss, mag man bezweifeln. Die Vertreibung jedoch hat Prozesse in Gang gesetzt, die noch und gerade heute wirken. Eine Koexistenz, die davor vielleicht noch möglich gewesen wäre, scheint heute beinahe unmöglich. Die Wissenschaftler gehen alle davon aus, dass erst eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der konflikthaften Geschichte Palästinas politische Veränderungen heute möglich machen, ob man das nun "Friedensprozess" oder die Gründung einer staatlichen Koexistenz nennt.

    "Die gegenwärtige geo-politische Realität – in der Israel für ganz Palästina steht, was der größte Teil der westlichen Welt als normal zu akzeptieren scheint – steht nicht nur im krassen Gegensatz zur Geschichte des Landes, sondern geht auch vollständig über die Rechte der indigenen palästinensischen Bevölkerung hinweg (…) Die Hoffnung, dass es für dieses zerrissene Land eines Tages Versöhnung oder Frieden geben könnte, kann nur dann in Erfüllung gehen, wenn diese Kluft zwischen wahrgenommener und gelebter Realität geschlossen wird."

    Zu dieser Kluft gehört die Konstitution des Staates Israel durch den Holocaust genauso wie die Vertreibung der Palästinenser, die gegenseitigen Feindbilder und die repressive Praxis oder die unterschiedlichen Wurzeln, die ursprüngliche Bewohner und Siedler in traditionellen wie modernen Strukturen haben. Ungleiche Rechte von Palästinensern und Juden in Israel werfen generelle Fragen nach dem Zustand der Demokratie im Land auf. So untersuchen kritische Autoren, wie Dan Rabinowitz, Moshe Zuckermann, Lev Grinberg oder andere in Europa noch nicht so bekannte Wissenschaftler sehr detailliert Geschichte und Gegenwart Palästinas, allerdings jeweils einzeln und beziehen sich leider nicht aufeinander. Auch wenn sie in ihren Ländern bisher noch Minderheits-Posi¬tionen vertreten und manches auch unnütz polemisch ist, kann die Sammlung an Aufsätzen auch im Westen wichtige Impulse geben. Wenn man sie nicht abermals mit Klischees oder vorschnellen Antisemitismus-Vor¬wür¬¬fen abwehrt, könnte sie einen kleinen Beitrag zur kritischen Diskussion um die Zukunft im Nahen Osten leisten – für Juden und Palästinenser.

    Ilan Pappe / Jamil Hilal, Hg.,: Zu beiden Seiten der Mauer. Auf der Suche nach einem gemeinsamen Bild der israelisch-palästinensischen Geschichte.
    Hamburg, Laika Verlag 2013; Preis: € 29,--