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Sudetendeutsche
Von wegen ewiggestrig

Viele Sudetendeutsche engagieren sich inzwischen in ihrer alten Heimat. Dabei entstehen bemerkenswerte Initiativen. In Saaz etwa will ein deutsch-tschechischer Verein das Miteinander alter und neuer Bewohner fördern - und macht auch keinen Bogen um die Vergangenheit.

Von Kilian Kirchgeßner | 25.08.2017
    Der Marktplatz von Žatec (deutsch Saaz) in Tschechien, April 2016 Im Januar 1945 gehörte der Ort zum Landkreis Saaz im Regierungsbezirk Eger im Reichsgau Sudetenland
    Der Marktplatz von Žatec (deutsch: Saaz) im Nordwesten Tschechiens (dpa/Lars Halbauer)
    Der Film geht gerade zu Ende. Auf dem Flur vor dem Theatersaal im böhmischen Ort Žatec steht Otokar Löbl, er macht seiner Erleichterung Luft.
    "Jaaaa! Die Kommentare kommen wahrscheinlich später. Es gibt ja Leute, die sind extrem von jeder Seite."
    Es ist ein Film, der die Emotionen aufwühlen könnte, befürchtet Otokar Löbl: Denn es geht um die Vergangenheit von Deutschen und Tschechen in der Stadt Žatec, die früher einmal auf Deutsch Saaz hieß. Die Geschichte der Stadt wird darin beleuchtet, das jahrhundertelange Zusammenleben und natürlich auch die Katastrophe - die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Phase unmittelbar danach. Historiker aus beiden Ländern kommen in dem Film zu Wort; der Film soll so etwas wie eine Diskussionsgrundlage sein - eine Darstellung, die die Gräuel der Nazis und das Unrecht der Vertreibung gleichermaßen anspricht. Zur Premiere im barocken Stadttheater sind Zuschauer aus ganz Tschechien gekommen.
    "Es soll ja kein Heimatfilm sein, sondern für Deutsche und Tschechen übergreifend. Saaz bietet sich mit seiner Geschichte an, exemplarisch die Problematik zwischen Deutschen und Tschechien aufzuzeigen."
    "Ich bin froh, dass ich hier Freunde gefunden habe."
    Otokar Löbl ist der Mann, der hinter der Idee steckt: Der Frankfurter ist Vorsitzender des "Vereins der Freunde der Stadt Saaz". Hier engagieren sich vor allem Vertriebene von Deutschland aus für ihre alte Heimat. Viele haben eine traumatische Familiengeschichte hinter sich - so wie Löbl selbst, Sohn eines Juden und einer Sudetendeutschen. Warum er sich trotzdem für seine alte Heimat stark macht?
    "Ich meine, ich habe meine Kindheit hier verbracht, ich bin mit der Stadt verwachsen und bin froh, dass ich in der Lage bin, mich so zu engagieren und Freunde hier gefunden habe, die mir damit helfen, weil ich der Meinung bin, es muss ja in Europa weitergehen!"
    Es ist diese neue, diese europäische Dimension, die vielerorts die Vertriebenen antreibt. Sie sind mittlerweile hochbetagt, selbst die erst in Deutschland geborene zweite Generation kommt allmählich ins Rentenalter. Manche freunden sich mit der Familie an, die heute in ihrem Geburtshaus lebt, andere gehen zu Zeitzeugen-Gesprächen in Schulen, wieder andere packen bei der Denkmalpflege mit an.
    Die Kontakte nutzen Sudetendeutschen und Tschechen
    Es sei einfach ein Stück Normalität, urteilt Otokar Löbl.
    "Ich wollte nicht herkommen und sagen: Ich weiß alles besser. Deshalb mache ich das so, wie wenn ein Bayer nach Hamburg fährt, wo er geboren ist. Für mich ist das durch die offenen Grenzen eine ganz normale Reise hierher - nur dass es halt fünf Stunden dauert, das ist der einzige Unterschied."
    Die Kontakte zwischen Sudetendeutschen und Tschechen nutzen beiden: Die einen möchten ihre Erfahrungen, aber auch die Geschichten und Sagen der alten Heimat weitergeben; die anderen, die bislang oft ohne Wurzeln im alten Sudetengebiet gelebt haben, beginnen sich für ihre Region zu interessieren. Der tschechische Kulturminister Daniel Herman fasste das vor einem Jahr bei seiner Rede auf dem Sudetendeutschen Tag zusammen - dort war er als erster tschechischer Spitzenpolitiker überhaupt aufgetreten:
    "Wir sind uns durchaus der einmaligen historischen Gelegenheit bewusst, nämlich der Möglichkeit, in die verlassenen Gärten und Friedhöfe zurückzukehren und gemeinsam die Obstbäume und verlassenen Gräber zu versorgen."
    Im Mittelpunkt steht die Gegenwart - nicht die Vergangenheit
    Bei den Kontakten zwischen Sudetendeutschen und Tschechen soll es um weit mehr als einen würdigen Umgang mit der Vergangenheit gehen - die Gegenwart steht im Mittelpunkt. Otokar Löbl hat mit seinem Verein bereits etliche Projekte gestartet, der Film ist das jüngste davon. Das letzte soll es allerdings nicht sein, schmunzelt er: "Nein, das ist ein Gesellenstück. Das Meisterstück soll nach uns das Museum des Ackermann sein, des Johannes aus Saaz. Das wäre dann die Krönung."
    Ein Museum zur deutsch-tschechisch-jüdischen Geschichte soll es werden - einer Geschichte, die jetzt weitererzählt werden soll.
    Programmtipp: "Das Vermächtnis - Mit Sudetendeutschen in der alten Heimat" ist Thema am Samstag, 26.8.2017, in den "Gesichter Europas" im Dlf.