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Südstaatenroman
Jesmyn Ward: Vor dem Sturm

Im Zentrum von "Vor dem Sturm" der jungen afro-amerikanischen Autorin Jesmyn Ward steht die Geschichte von Esch und ihren drei Brüdern. Während der Jahrhundert-Orkan Katrina aufzieht, erzählt die 15-Jährige von den zwölf Tagen vor dem Sturm: Südstaatenalltag mit naturgewaltigem Finale.

Von Martin Zähringer | 27.02.2014
    Ein Südstaatenroman aus der Hand einer jungen afro-amerikanischen Autorin, das verspricht Neuland. Jesmyn Ward legt die Selbsterzählung einer schwangeren Fünfzehnjährigen mit Namen Esch vor, die ihr Gefühlschaos mit der Lektüre griechischer Mythen zu ordnen sucht. Ein schwarzes Mädchen in einer desolaten Familie, angesiedelt am Stadtrand irgendwo am Mississippi-Delta, ist sie im auftretenden Figurenkanon eine der schwächsten Personen. Als Ich-Erzählerin aber hat sie alle Fäden in der Hand, und die sind zahlreich und überraschen durch eine originelle poetologische Textur. Da gibt es ihre eigene erotische Liebesgeschichte, erzählerisch enggeführt mit der im Wortsinn verrückten Hundeliebe ihres Bruders. Es gibt die sozialrealistische Familiengeschichte als ökonomisches und moralisches Überlebensthema, es gibt ökopoetische Naturmeditationen sowie einen romantischen Hauch griechischer Mythologie. Und am dramatisch-düsteren Horizont droht der Jahrhundertorkan Katrina. In zwölf Kapiteln erzählt Esch mit unermüdlicher Ausdruckskraft die zwölf Tage vor dem Sturm, ein Südstaatenalltag mit naturgewaltigem Finale. Am Anfang ist Begehren:
    "Er schälte meine Kleidung ab wie eine Orangenschale; er wollte mein anderes Ich. Das fleischige, reife Herzstück. Das klebrige Herz, das die Jungs unter meiner jungenhaften Frisur, meiner dunklen Haut und meinem reizlosen Gesicht sahen. Das Mädchenherz, das ich vor Manny den anderen Jungs geschenkt hatte, weil sie es haben wollten, nicht weil ich es ihnen geben wollte. Ich schenkte es ihnen, weil ich dann einen Moment lang Psyche sein konnte, oder Eurydike, oder Daphne. Ich wurde geliebt. Aber bei Manny war es anders; er war so schön, und trotzdem wählte er mich, immer wieder."
    Manny wählt das Mädchen aber nur für den schnellen Sex und entzieht sich ihrem verschüchterten Liebeswerben, zumal er mit einer anderen Frau zusammenlebt. Da wird für Esch die griechische Mythenwelt zur poetischen Überlebenshilfe, stark benötigt, zumal der vier Jahre ältere Geliebte von der Schwangerschaft noch gar nichts weiß. Während sie sich mit den Frühsymptomen plagt, einem körperlichen Thema, das ausführlich zur Schilderung gelangt - und den Leser etwas zu direkt in ihre Perspektive zwingt -, treibt er weiter sein leichtes Spiel mit ihr. Und Esch – die sich immer mehr verliebt - sucht Unterstützung bei den Griechen:
    "In jeder einzelnen Geschichte der griechischen Mythologie kommt das vor: ein Mann, der hinter einer Frau her ist, oder eine Frau, die hinter einem Mann her ist. Nie gibt es ein Treffen in der Mitte."
    Esch hat die Mythen, die Jungs haben die Muskeln. So etwa der älteste, siebzehnjährige Bruder, der Baseballprofi werden will und sich um den siebenjährigen Junior kümmert. Und während der meist alkoholisierte Vater versucht, das fragile Familiengebilde auf einem mit Autowracks übersäten Hofgelände mit gelegentlichem Schrotthandel über Wasser zu halten, kümmert sich der sechzehnjährige Skeetah nur um eines: um seine Pitbullterrier-Hündin China, die fünf Junge geworfen hat.
    "Skeetah zieht China an den Hinterbeinen zu sich heran, sperrt ihr das Maul auf und schnüffelt an ihrer Zunge. Er hat von Liebhaber auf Vater umgeschaltet. Sie ist die Tochter, die ihn anhimmelt. Ich male mit dem Zeh einen Strich in den Sand, ziehe die Hände aus den Taschen meiner Shorts, wo sie sich hingeschlichen hatten, um meinen Bauch zu umschließen, versuche mich zu zeigen, damit Manny mich anschaut wie er China anschaut."
    Mit der Geburt der Kampfhunde beginnt der Roman. Wo aber der Pitbull-Terrier üblicherweise als Topos bestimmter Sozialmilieus fungiert, wird er hier zum Thema. Die Erzählerin führt ihren Bruder als entfremdeten jungen Mann vor, dessen Tierliebe schon nicht mehr komisch ist, wenn er selbst mitten im Orkan nur an seine Hunde denkt. Sie verurteilt Skeetahs Egomanie aber nicht, sondern stellt sich dieser radikalen Leidenschaft an die Seite, spricht doch aus Skeetahs tragisch verschobener Liebesökonomie ihre eigene Misere. China wird auch für sie zum Fetisch einer unerfüllten Leidenschaft, sie versteht den Bruder nur zu gut:
    "Ich sehe Skeetah, der Holz zur Schuppentür schleppt. Die nackte Glühbirne leuchtet nach draußen, erhellt den Sand, in dem er kniet. Er zieht Nägel aus den Planken. Insekten schwirren am Rand des Lichtkegels herum. Der Rahmen für den Zwinger, der tagelang wie eine umgefallene Vogelscheuche in der Erde gesteckt hat, steht jetzt wieder. Er baut ihr ein Haus. Er passt auf sie auf, untersucht sie auf Krankheiten. Er weiß, was Liebe ist."
    Die erzählerische Verbindung der beiden Obsessionen ist gewagt, und den direkten Tier-Mensch-Vergleich zieht die jugendliche Erzählerin noch oft. Jesmyn Ward hat es offensichtlich darauf angelegt, ihre Themen radikal durchzuführen. Zeitweise sind zwar die filmnaturalistischen Szenen eines Hundelebens etwas zu sehr ausgepinselt, aber meist gelingt es, dem drohenden Sentiment oder Kitsch zu entgehen. Es gelingt vor allem deshalb, weil die poetologischen Fäden der Erzählung geschickt kombiniert werden, und zwar in schnellem Wechsel. Hier wieder ein Kontrapunkt von Eros und Mythos. Esch rennt mit ihrem Bruder durch den Wald:
    "Wir finden einen Rhythmus. Mein Gesicht ist heiß, die Haut spannt und die Luft, die in meine Nase strömt, fühlt sich an wie Wasser. Ich schwimme durch die Luft. Mein Körper tut das, wofür er geschaffen ist: Er bewegt sich. Skeetah kann mich nicht hinter sich lassen. Ich bin ihm ebenbürtig. Ist Medea so mit ihrem Bruder gerannt, Hand in Hand, weg von der Feste ihres Vaters, um zu den Argonauten zu stoßen? Fühlte sich jeder Schritt so an wie der hüpfende Lauf eines Vogels, der gleich losfliegt?"
    Ein Roman in zwölf Tagen
    Es funktioniert, weil die stabile Konstruktion des Ganzen – ein Roman in zwölf Tagen - die zuweilen wildromantische Dynamik auffängt. Aber meist trägt sich der Text selbst, und das ist Jesmyn Wards lebendigem Sprachgestus und Stilwillen zu verdanken. Neben dem dramatischen Finale ist es vor allem diese vitale Sprachkunst, die hier – trotz der relativen Ereignislosigkeit des geschilderten Südstaatenalltags - zu einer spannenden Lektüre führt. Die deutsche Übersetzung hat die sprachlichen Vorgaben hervorragend interpretiert, ein Lob auch dem Verlag für eine ordentliche Schriftgröße. Ein letztes Zitat, in dem die Sphäre der Natur erzählerisch mit dem Motiv der Trauer um die verstorbene Mutter verknüpft wird. Esch erinnert sich, während sie im Wald nach den für die Tagesverpflegung unentbehrlichen Eiern der verwilderten Hühner sucht:
    "Ich weiß nicht mehr genau, wie ich es geschafft habe, Mama zu folgen, denn ihre Haut war so dunkel wie die ausladenden Äste der Eichen, und sie trug nie leuchtende Farben: kein Nagellackrosa, kein Forsythienblau, kein Bananengelb. … Wenn sie sich bückte, um aus einem versteckten Nest ein Ei zu nehmen, konnte ich sie kaum sehen, und dann bewegte sie sich, und es sah aus, als bewege sich der Wald, als fahre ein Wind durch die Bäume."
    Es ist zu empfehlen, bei der Lektüre dieses Romans auf die vielen Variationen der Naturbeschreibung zu achten. Da gibt es viel zu entdecken, was nur scheinbar so nebenher läuft. Offensichtlich ist die mythische Überhöhung des Natursettings, interessant sind aber auch die Geräuschkulissen. Diese ökopoetische Spur verweist auf erzählerische Harmonien, die oft erst die wechselnde Melodik der erzählten Geschichten tragen. Jesmyn Ward hat einen Master in Creative Writing, erkennbar an einem vielseitigen Zugriff auf Trends, erzählerische Mittel und Möglichkeiten. Leicht verkäufliche melodramatische Sequenzen gehören auch dazu, aber bei alldem staunt man doch über die spielerische Leichtigkeit, mit der die Autorin die Komposition beherrscht.
    Jesmyn Ward: "Vor dem Sturm"
    Aus dem Englischen von Ulrike Becker
    Verlag Antje Kunstmann, 316 Seiten, 21,95 Euro