Dienstag, 23. April 2024

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Sure 1 Vers 4
Eine mystische Sicht auf den Koran

Man kann den Koran wortwörtlich lesen oder nach der Bedeutung hinter den Buchstaben fragen. Letzteres tun vor allem Sufis, also die Mystiker im Islam. Sie hoffen, auf ihrem Weg Gott bereits im Diesseits ganz besonders nah zu kommen.

Prof. Dr. Seyyed Hossein Nasr, George Washington University, Washington D.C., USA | 04.11.2016
    "[Alles Lob gebührt] dem Herrscher am Tag des Jüngsten Gerichts."
    Zunächst ist es wichtig zu erwähnen, dass jedes Wort und jeder Buchstabe des Korans in seiner arabischen Originalsprache nicht nur eine äußere, sondern auch einen innere Bedeutung hat. Das schließt auch Zahlensymbolik mit ein; ähnlich der Gematrie, also der Interpretation von Worten mit Hilfe von Zahlen wie man es im Judentum mit der mystischen Tradition der Kabbala und der Bewegung des Chassidismus verbindet.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Der Koran hat mehrere Ebenen der inneren Bedeutung. Manche sprechen von sieben Ebenen. Die höchste Ebene ist nach Ansicht der Sufis, also der Mystiker im Islam, nur Gott bekannt.
    Sufische Koran-Kommentare, im Arabischen "ta’wîl" genannt, was so viel heißt wie spirituelle Hermeneutik, legen keine Bedeutungen dar, die auf menschlichen Überlegungen beruhen. Vielmehr präsentieren sie Bedeutungen, die bereits im Heiligen Text selbst enthalten, aber vor den Augen Außenstehender verborgen sind.
    Das Wort "ta’wîl" besagt in seiner Grundbedeutung, dass etwas auf seinen Ursprung zurückgeführt wird. Wenn spirituelle Hermeneutik die innere Bedeutung des Heiligen Textes aufdeckt, führt sie zu dessen Ursprung. So wird das Innere zum Äußeren und manifestiert sich. Metaphysisch gesprochen bilden also das Innere und der Ursprung letztlich die gleiche Wirklichkeit ab.
    Kommen wir zurück zum eingangs zitierten Vers. Mein Verständnis dieses Verses basiert auf einem Teilaspekt seiner inneren Wirklichkeit und auf die Frage bezogen: Was heißt es, menschlich zu sein und was heißt es nicht? Dabei werden selbstverständlich alle Aspekte und Ebenen der inneren Bedeutung angesprochen. Die Sufis haben über die Jahrhunderte hinweg zahlreiche Kommentare dazu verfasst, manche davon in Buchlänge.
    Der Vers: "[Alles Lob gebührt] dem Herrscher am Tag des Jüngsten Gerichts" spielt auf den Ablauf der Zeit am Lebensende an: Es folgen der Tod und das Treffen mit Gott.
    Um sich des Menschseins gewahr zu werden, sollen wir uns vergegenwärtigen, dass das Leben im Diesseits eine Reise ist, die mit dem Tod gefolgt von der Auferstehung endet, und dass wir dazu bestimmt sind, Gott unausweichlich zu treffen.
    Das wiederum bedeutet, obwohl wir sterben, sind wir dennoch unsterblich. Die tiefe Wirklichkeit unseres Bewusstseins kann durch den Unfall unseres körperlichen Ablebens nicht ausgelöscht werden.
    Der Vers spricht nicht nur zeitlich gesehen vom "Tag" jenseits aller anderen Tage, sondern er spricht auch vom "Jüngsten Gericht". Diese eschatologische Aussage ist von größter Wichtigkeit für unser Leben auf Erden. Offenbart sie doch die Erhabenheit des Status Mensch und die Tatsache, dass Handlungen in diesem Leben Konsequenzen für das Leben jenseits dieser Welt haben.
    Diese Überlegungen werden von gläubigen Menschen überall auf der Welt weitgehend akzeptiert. Die Sufis jedoch gehen noch einen Schritt weiter. Sie bemühen sich darum, im Hier und Jetzt zu sterben, auferweckt zu werden und noch in dieser Welt das Treffen mit Gott zu erleben. Dazu machen sie spirituelle Übungen und steigen den Pfad der Perfektion hinauf.
    Diejenigen, die das Ziel bereits erreicht haben, sind im tiefsten Sinne schon gestorben, auferweckt worden, haben den Herrscher am Tag des Jüngsten Gerichts getroffen, wurden vom Obersten Richter abgeurteilt und ruhen nun im Paradies der göttlichen Nähe.
    Der Prophet Mohammed wurde einst nach Tod und Auferstehung gefragt. Er antwortete: "Seht mich an; ich bin viele Male gestorben und wieder auferweckt worden."
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Sendezeitgründen leicht gekürzte Version.