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Sure 106 Vers 1-2
"Es wäre naiv anzunehmen, der Koran ließe sich eindeutig verstehen"

Eine eindeutige Interpretation des Korans scheitert mitunter am Originaltext selbst. Gründe sind mal grammatischer Natur, mal ist die Bedeutung einzelner Worte unklar, mal verstellen die Eigenarten der arabischen Schrift den Sinn. Solche Schwierigkeiten lassen sich beispielhaft in Sure 106 aufzeigen.

Von Dr. Munther A. Younes, Cornell University, Ithaca, New York, USA | 16.03.2018
    "Dass die Quraisch zusammenbringen,
    dass sie die Karawanenreise des Winters und des Sommers zusammenbringen
    "
    Die Interpretation des Korans ist keine leichte oder geradlinige Angelegenheit. Das liegt nicht nur an theologischen Meinungsverschiedenheiten, sondern oft an grammatikalischen Problemen und an Schwierigkeiten mit der Bedeutung von Wörtern. Das lässt sich beispielhaft aufzeigen an den ersten zwei Versen der Sure 106, die wir gerade gehört haben.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Im ersten Vers stehen im Arabischen zwei Wörter: Erstens: Quraisch. Das ist der Name des berühmten Stammes in Mekka, zu dem auch Mohammed gehörte. Zweitens steht dort das Wort ’īlāf, dem der arabische Buchstabe "l-" vorangestellt ist. Das Wort ’īlāf taucht auch im zweiten Vers auf, wird dort aber im arabischen Original leicht anders geschrieben. Übersetzt ist es beide Male mit "zusammenbringen".
    Das Wort ’īlāf ist seit den ersten Jahrhunderten des Islams Gegenstand von Diskussionen unter Korankommentatoren und Akademikern. Es gibt Ungewissheiten bezüglich der Schreibweise, der Lesart und der Bedeutung.
    Munther A. Younes
    Dr. Munther A. Younes lehrt an der renommierten Cornell University im US-Bundesstaat New York. (priv.)
    Diese Ungewissheiten entstehen wegen der Eigenarten der arabischen Schrift, die zum Beispiel keine Kurzvokale ausschreibt. Zudem werden manche Buchstaben durch einen, zwei oder drei Punkte darüber oder darunter von einander unterschieden. Bei den ersten Abschriften des Korans fehlen diese Punkte jedoch.
    Das Wort kann somit laut der Überlieferung auf vier verschiedene Arten gelesen werden: einmal ’īlāf, einmal ’ilāf, einmal ta’alluf, und einmal ’ilf. Das geht mit verschiedenen Bedeutungen einher: Gnade (ni‘ma), Vertrautheit und Intimität (ulfa), sich an etwas klammern oder bleiben/verweilen (luzūm) und Gepflogenheit (’āda).
    Der Buchstabe "l-" vor dem Wort ’īlāf wurde im Allgemeinen als Präposition mit der Bedeutung "zu" oder "für" gelesen. Alternativ wurde das "l-" auch als Partikel verstanden, die im Arabischen zum Ausdruck des Erstaunens (ta’ajjub) dienen kann.
    Einer der frühesten Korankommentatoren, Muqātil ibn Sulaymān (gestorben im Jahr 767 nach unserer Zeitrechnung) schlägt noch eine Interpretation vor. Die Quraisch waren Kaufleute, die im Winter nach Jordanien und Palästina reisten, und im Sommer in den Jemen. Muqātil führt aus, als diese Reisen schwierig geworden waren, veranlasste Gott die Abessinier, das sind die Bewohner des heutigen Äthiopiens, Nahrung per Schiff zu den Quraisch zu transportieren.
    Muqātil interpretierte das "l-" am Anfang des ersten Verses weder als Präposition noch als Partikel des Erstaunens. Er las darin die arabische Verneinungsform; um im Arabischen ein Wort zu verneinen, stellt man vor das Wort die Partikel "lâ". Laut Muqātil bedeutet ’īlāf somit in der Verneinung "keine Reisen mehr machen" oder "keinen Handel mehr betreiben" (für die Quraisch).
    Eine Reihe moderner Studien, die im Westen erschienen sind, kam darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass man ’īlāf auch mit "Allianz beziehungsweise Bund", oder mit "Zusammenbringen" oder mit "ein Bündel von Sicherheitsabkommen" übersetzen kann.
    All diese verschiedenen Interpretation gehen zurück auf das unterschiedliche Verständnis dieses einen Wortes ’īlāf. Man kann daran sehen, wie wichtig die Kenntnis der arabischen Sprache mit all ihren grammatikalischen Spezifika ist, um den Koran zu verstehen. Durch eine leicht veränderte Lesart können sich völlig andere Bedeutungen ergeben. Es wäre somit naiv anzunehmen, dass sich der Koran eindeutig und leicht verstehen ließe.