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Sure 106 Vers 1-4
Kamelkarawane oder Seefahrt? Wie uneindeutig der Koran sein kann

Einiges am Originaltext des Korans ist unklar, was zum Beispiel an den Eigenarten der arabischen Schrift liegen kann, wie in der vorigen Ausgabe dieser Sendereihe erläutert wurde. Bei Sure 106 etwa gehen die meisten davon aus, dass die Worte Kamelkarawanen in der Wüste beschreiben. Doch stattdessen könnt es um etwas ganz anderes gehen: die Seefahrt.

Von Dr. Munther A. Younes, Cornell University, Ithaca, New York, USA | 23.03.2018
    "Dass die Quraisch zusammenbringen,
    [li-’īlāfi qurayš]
    dass sie die Karawanen-Reise des Winters und des Sommers zusammenbringen,
    [’īlāf-ihim riḥlata š-šitā’i wa-ṣ-ṣayf]
    (zum Dank) dafür sollen sie dem Herrn dieses Hauses dienen,
    [fa-l-ya‘budū rabba hāḏā l-bayt]
    der ihnen zu essen gegeben hat, so dass sie nicht zu hungern, und der ihnen Sicherheit gewährt hat, so dass sie sich nicht zu fürchten brauchen."
    [allaḏī ’aṭ‘amahum min jū‘in wa-’āmanahum min ḫawf]
    Wenn wir uns zunächst auf die eindeutigen Teile dieser Sure konzentrieren, dann geht es: um die Quraisch, den bekannten arabischen Stamm in Mekka, zu dem auch Mohammed gehörte, um eine Winter- und eine Sommerreise und um die Mitglieder der Quraisch, die den Herrn dieses Hauses - damit ist Gott gemeint - anbeten sollen. Weiter geht es darum, dass dieser Herr sie ernährt, wenn sie hungrig sind und dass er ihnen Sicherheit gibt, wenn sie Angst haben.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Man bekommt in Diskussionen über den Koran oft den Eindruck, die geschilderten Geschehnisse hätten sich stets in einer Wüstenregion zugetragen, wo ausschließlich Kamelkarawanen etwa zur Nahrungsmittelversorgung dienten.
    Die ersten Empfänger der koranischen Botschaft dürften aber auch mit der Schifffahrt vertraut gewesen sein. Das arabische Wort für Schiff ("fulk") kommt 22 Mal im Koran vor - häufig, wenn es um das Beziehen von Nahrungsmitteln (z. B. 2:164) oder um die Angst vor dem Ertrinken (z.B. 10: 22) geht.
    Munther A. Younes
    Dr. Munther A. Younes lehrt an der renommierten Cornell University im US-Bundesstaat New York. (priv.)
    Die Versorgung mit Speisen und der Schutz vor Gefahren sind Beispiele für Gottes besondere Gunst gegenüber dem Menschen. Diese Gunst soll der Mensch anerkennen.
    Man könnte nun auf die Idee kommen, das Thema von Sure 106 sind nicht Kamelkarawanen sondern Seefahrten, die zur Lieferung mit Lebensmitteln dienten. Gott erweist seine Gunst, indem er diese Reisen sicher macht. Und diejenigen, die diese Gunst erfahren, nämlich die Quraisch, sollen das anerkennen und ihn dafür verehren.
    Die arabische Sprache führt ihre Wörter meist auf drei Buchstaben zurück. Sie bilden die sogenannte Wurzel. Zudem enthält der Koran viele Lehnwörter aus fremden Sprachen, insbesondere aus dem Syrischen und dem Hebräischen.
    Das syrische Wort "elaf" hat nun dieselben Wurzelkonsonanten wie das arabische Wort ’īlāf, das in Vers 1 mit "zusammenbringen" übersetzt wurde. Das syrische Wort "elaf" bedeutet aber Schiff oder Galeere. Verstünde man Sure 106 nun im Kontext von Seehandel, würde das perfekt passen.
    Allgemein wird angenommen, dass die Wurzel des arabischen Wortes ’īlāf im ersten Vers und die Wurzel des arabischen Wortes ’īlāf im zweiten Vers dasselbe meinen, auch wenn beide Wurzeln etwas anders geschrieben werden (‘ilf und ’lf). Doch warum sollten die Wurzeln anders geschrieben werden, wenn es sich um dasselbe Wort handelt? Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass es sich um dasselbe Wort handelt, gibt es gute Gründe zu glauben, dass beide zumindest von derselben Wurzel abgeleitet werden können.
    Grundsätzlich werden im Arabischen Verben, Substantive, Adjektive und Adverbien von der Wurzel abgeleitet. Die meisten Verben werden zudem in so genannte Stämme eingeteilt. Das sind bestimmte Muster, nach denen sie gebildet wurden. Es gibt zehn Stämme, wobei der erste der Grundstamm ist. Die Stämme zwei bis zehn haben ihrer Tendenz nach jeweils eine bestimmte Funktion - zum Beispiel sind sie kausativ, reflexiv, reziprok oder transitiv.
    Das erste Wort des zweiten Verses im Arabischen ist höchstwahrscheinlich eine Verbform des II. Stammes.
    Der Grundstamm heißt "’alifa" und bedeutet "vertraut sein mit" oder "zufrieden sein mit". Der II. Stamm heißt "’allafa". Er hat eine kausative Funktion. Er verleiht dem Wort also eine verursachende, bewirkende, veranlassende Bedeutung. Der II. Stamm bedeutet somit: "jemanden mit etwas vertraut machen" oder "jemanden mit etwas zufrieden stellen."
    Bezeichnenderweise würde ein kausatives Verb an dieser Stelle des Verses auch eine eindeutige Erklärung dafür liefern, warum das Wort "Reise" im Arabischen im Akkusativ steht. Übrigens: Die Zuordnung dieses Kasus wird in klassischen Schriften nicht erklärt.
    Berücksichtigen wir die beschriebenen Überlegungen, könnte man Sure 106 auch so verstehen:
    "Staunt über die Schiffe der Quraisch!
    [li-’īlāfi qurayš]
    (Gott) hat (das Volk der Quraisch) mit der Winter- und der Sommerreise vertraut gemacht.
    [’allafahum riḥlata š-šitā’i wa-ṣ-ṣayf]
    Deshalb sollen sie den Herrn dieses Hauses anbeten,
    [fa-l-ya‘budū rabba hāḏā l-bayt]
    der ihren Hunger stillt und ihnen Sicherheit gewährt, damit sie keine Furcht haben brauchen."
    [allaḏī ’aṭ‘amahum min jū‘in wa-’āmanahum min ḫawf]