Freitag, 19. April 2024

Archiv

Sure 108 Verse 1-3
Die Grundsätze der Koran-Auslegung

Sure 108 ist die kürzeste Sure im Koran - sie umfasst nur drei Verse. Dennoch ist sie aus Sicht von Wissenschaftlern besonders lehrreich: Anhand dieser Sure lassen sich die wichtigsten Prinzipien der Koran-Auslegung aufzeigen.

Von Prof. em. Dr. Manfred Kropp, Universität Mainz | 24.02.2017
    "Wir haben dir die Fülle gegeben. So bete zu deinem Herrn und opfere. Der dich hasst, der ist des Guten beraubt."
    An dieser kürzesten Sure, zu Deutsch "Abschnitt" der koranischen Textsammlung - hier in der Übersetzung von Hans Zirker - lassen sich praktisch alle Grundsätze und Methoden historisch-kritischer Koran-Auslegung demonstrieren.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Für die gewöhnliche muslimische Auffassung beziehen sich die drei Verse auf eine Begebenheit in Mohammeds Leben. Der in Vers 3 genannte "Hasser" ist ein Widersacher Mohammeds, den Gott verflucht.
    Manfred Kropp sitzt in einem privaten Umfeld an einem Tisch und liest etwas.
    Manfred Kropp war lange Zeit Direktor des Orient-Instituts in Beirut und Istanbul. Als Professor lehrte er im In- und Ausland. (priv.)
    Vers 1 und 2 erinnern Mohammed an Allâhs erwiesene Wohltaten und daraus erwachsene Pflichten. Fast alle nichtmuslimischen Erklärungen folgen beinah sklavisch diesem Muster. Zugrunde liegt die Idee und der Versuch, wo immer dies möglich ist, in koranischen Sätzen einen Bezug auf Mohammed und sein Leben zu sehen.
    Unterschiedliche Erklärungen finden sich nur für das letzte arabische Wort in Vers 3 "abtar", hier übersetzt mit "des Guten beraubt", wörtlich vielleicht als "abgeschnitten" zu verstehen, also entweder als abgeschnitten von der Güte Allâhs, oder, ohne dass ich hier näher auf den Gedanken eingehen kann, von einer Nachkommenschaft.
    Das letzte arabische Wort im ersten Vers, "kawṯar", wird entweder als "Fülle" gedeutet, hätte dann aber eine ungewöhnliche sprachliche Form. Oder aber es wird nach einem bewährten Prinzip der Koran-Auslegung interpretiert: "Kannst Du das Wort nicht verstehen oder deuten, dann ist es ein Eigenname"; in diesem Fall wird "kawṯar" zumeist als Name eines der Flüsse im Paradies verstanden. Beide Wörter, "abtar" und "kawṯar", kommen übrigens im Koran nur einmal vor.
    Eine der kritischen Richtungen wissenschaftlicher Koranforschung versucht, die koranischen Texte als allgemeine religiöse Aussagen zu sehen. Da wäre der Ausdruck "der dich hasst" eine vielgebrauchte Beschreibung des Teufels, des Menschenfeindes und Menschenhassers par excellence.
    Weiter lässt sich die direkte Gottesrede in den Versen dieser Sure als Antwort auf ein Bittgebet auffassen. Das wird sofort klar, wenn man dieses Gebet formuliert. Es würde ungefähr so lauten:
    "Gib mir, (o Herr) al-kawṯar!
    Dann will ich Dich, meinen Herrn, segnen/preisen und Opfer schlachten.
    Und der mich hasst, soll ‚abgeschnitten‘ sein!"
    Diese Formulierungen klingen übrigens auch in Arabisch gut und authentisch. Ein solches Erklärungsverfahren ist bei koranischen Texten besonders erfolgreich. Damit kann man die zahlreichen und oft verwirrenden Wechsel von Sprechendem, Angesprochenem und Besprochenem im Koran in der Regel in eine klare Perspektive bringen.
    Allerdings fallen in dieser Umformung der Sure in ein Bittgebet die zwei fraglichen Wörter "kawṯar" und "abtar" nur noch stärker als nicht recht im Zusammenhangstehend auf. Das gilt auch für das Wort "naḥara" "schlachten" oder "opfern" in Vers 2, das ebenfalls im Koran nur einmal vorkommt.
    Als weiterer Schritt, wenn auch in der gegenwärtigen Forschung umstritten, wird der Versuch gemacht, diese drei Wörter nicht vom Arabischen her, sondern aus dem Aramäischen zu deuten.* "Kawṯar" wäre dann aramäisch "kuttara", was so viel bedeutet wie: "Dauer; Standhaftigkeit"; "naḥara" wird als "ngar" gelesen und heißt dann "beharrlich, standhaft sein". Und aus "abtar" wird "atbar", von einer im Koran öfters gebrauchten, wohl aramäischen Lehn-Wurzel abgeleitet, mit der Bedeutung "ganz und gar zerschmettert, vernichtet, ruiniert".
    Ein aus dem Aramäischen rekonstruierter Text der Sure 108 würde so lauten:
    "Wir haben dir Standhaftigkeit gegeben!
    So bete in Standhaftigkeit zu deinem Herrn!
    Der dich hasst aber, (der Teufel), wird zerschmettert!"
    *Der Autor legt gesonderten und besonderen Wert auf die Feststellung, daß die aramäische Deutung von Wörtern der Sura erstmals von Christoph Luxenberg 2000 veröffentlicht wurde.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.