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Sure 18 Vers 65
Die mysteriöse Figur al-Chidr

Im Koran tauchen vor allem Propheten auf, aber auch Figuren, die die Wissenschaft nicht immer so recht zuzuordnen weiß. Eine dieser rätselhaften Personen ist ein Gottesknecht, al-Chidr genannt. In der Mystik des Islams erlangte er wesentliche Bedeutung.

Von Prof. Dr. Patrick Franke, Universität Bamberg | 17.11.2017
    "Da fanden sie einen von unseren Knechten. Wir hatten ihm Barmherzigkeit von uns gewährt und von uns Wissen gelehrt."
    Kann der Mensch unmittelbar von Gott Wissen erhalten, auch wenn er kein Prophet ist? Ja, meinen die islamischen Mystiker und verweisen zum Beleg auf diesen Vers. Er steht innerhalb der geheimnisvollen Erzählung von Mose, seinem Diener und einem Gottesknecht, die einen der drei großen narrativen Abschnitte von Sure 18 darstellt.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    In dieser Erzählung wird berichtet, wie sich Mose mit seinem Diener auf eine Reise begibt. Dabei stoßen sie auf jenen Gottesknecht. Mose begleitet ihn auf eigenen Wunsch hin und bittet ihn um Belehrung.
    Unterwegs begeht der namenlose Gottesknecht drei scheinbar absurde Handlungen: Er durchlöchert ein Schiff, tötet einen Jungen und setzt in einer Stadt, in der die beiden abgewiesen werden, eine Mauer instand. Mose hinterfragt das, erhält aber erst zum Schluss die Erklärungen: Das Schiff beschädigte der Gottesknecht, damit es ein böser König nicht konfisziert, den Jungen tötete er, weil der eine schwere Last für seine Eltern geworden wäre, mit der reparierten Mauer bewahrte er einen Schatz für Waisenkinder.
    Patrick Franke mit einem geöffneten Buch in Händen.
    Prof. Dr. Patrick Franke ist geschäftsführender Direktor des Zentrums für Interreligiöse Studien an der Uni Bamberg. (priv. )
    Aufgrund allgemein anerkannter Hadithe - Berichte vom Propheten Mohammed -, die diese Erzählung kommentieren, wird der Gottesknecht in der islamischen Tradition al-Chidr genannt. Das bedeutet so viel wie "der Grüne".
    Wie kann es sein, dass al-Chidr einem Propheten wie Mose im Wissen überlegen ist? Steht es nicht im Widerspruch zur Lehre vom Vorrang des Prophetentums? Für viele muslimische Gelehrte steht daher fest, dass al-Chidr selbst ein Prophet sein muss.
    Anders sahen es die meisten islamischen Mystiker. Für sie ist al-Chidr der koranische Prototyp der sogenannten Gottesfreunde und der Beweis dafür, dass auch Menschen, die nicht auf der Stufe des Prophetentums stehen, Wissen unmittelbar von Gott erhalten können. Zum Gottesfreund werden kann nach ihrer Auffassung jeder Mensch, der den mystischen Weg der Sufis beschreitet.
    Das Wissen, das der Gottesfreund durch göttliche Eingebung erhält, wird von den Sufis ladunisches Wissen genannt. Dieser Name leitet sich von der arabischen Präposition "ladun" ab, die in diesem Vers 65 verwendet wird.
    Der bekannte Gelehrte al-Ghazâlî hat eine Abhandlung über dieses ladunische Wissen verfasst, das man als "Bei-Gott-Wissen" übersetzen kann. Darin erklärt er, dass das Wissen der Menschen von zweierlei Art ist: das eine komme durch menschliche Belehrung zustande, das andere durch göttliche.
    Bei letzterer könne man wiederum zwei Arten unterscheiden: Erstens, Offenbarung, die auf die Propheten beschränkt sei und seit dem Tod Mohammeds nach islamischer Auffassung nicht mehr existiere. Zweitens, Eingebung, die auch Nicht-Propheten zugänglich sei. Das durch Eingebung vermittelte Wissen, erklärt al-Ghazâlî, sei das ladunische Wissen.
    Für viele Sufis stand fest: Wer selbst den Weg al-Chidrs beschreiten und zum Gottesfreund werden will, muss nach ladunischem Wissen streben. Nicht der Lehrtradition, sondern dem sich durch Eingebungen mitteilenden Gott muss er sich verbunden fühlen.
    al-Chidr nachzufolgen, bedeutete also oft auch Kritik an der Tradition. Ein ägyptischer Sufi des 16. Jahrhunderts meinte: "Bei uns wird nur derjenige 'Gelehrter' genannt, der sein Wissen nicht aus der Überlieferung und der Frühzeit des Islams hat, sondern von chidrischer Stellung ist. Wer das nicht ist, erzählt nur das Wissen eines anderen nach. Ihm steht Lohn für die Weitergabe des Wissens zu, nicht aber der Lohn des Gelehrten."
    Von manchen Sufis wird berichtet, dass sie das ladunische Wissen sogar von al-Chidr selbst bei einer Begegnung mit ihm erhielten.
    Die Audioversion musste aus Sendezeitgründen leicht gekürzt werden.