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Sure 19 Vers 54
Ismael und die Brutalität des Märtyrertums

Ismael gilt als Stammvater der Araber. Nur weiß der Koran wenig über ihn zu sagen, außer in Sure 19. Aber vielleicht ist er nicht einmal hier gemeint, sondern ein anderer Ismael, der wiederum für die schlimmen Auswüchse menschlicher Brutalität im Altertum steht, wo vom Skalpieren und Abziehen der Gesichtshaut der Rede ist.

Von Prof. Dr. Reuven Firestone, Hebrew Union College, Los Angeles, USA | 28.09.2018
    "Und gedenke in der Schrift des Ismael! Er war einer, der hält, was er verspricht, und ein Gesandter und Prophet."
    Das 1. Buch Mose in der Bibel identifiziert Ismael als einen Stammvater der Araber. Der Koran selbst kennzeichnet ihn als biblische Figur der Banû Isrâ'îl - also des jüdischen Volks -, als Sohn Abrahams und israelitischen Propheten. Er hilft Abraham, das Fundament des sogenannten "Haus Gottes" zu errichten und die islamische Auslegungstradition geht einmütig davon aus, dass damit die Kaaba in Mekka gemeint ist.
    Die Sendereihe "Koran erklärt" als Multimediapräsentation
    Der Koran hat wenig mehr über Ismael zu sagen - außer diesem kurzen Hinweis, den wir eingangs hörten. Darin wird er jedoch in einer Weise porträtiert, die sich von anderen Koranstellen abzuheben scheint. Der Satzteil, der lautet "der hält, was er verspricht" (sâdiq al-wa'd), taucht nur in diesem Vers auf.
    Welches Versprechen hat Ismael gehalten? Die meisten klassischen Korankommentatoren verweisen auf eine Geschichte des großen mittelalterlichen Gelehrten al-Tabarî. Demnach sagt Ismael einem Mann zu, ihn zu treffen. Der Mann aber vergisst die Verabredung. Ismael bleibt über Nacht - mitunter heißt es drei Tage lang - am vereinbarten Treffpunkt, bis der Mann zufällig vorbeikommt. Als der Ismael sieht, ist er vollkommen perplex, weil der so lange gewartet hat. Daher, so heißt es, werde Ismael "Derjenige, der hält, was er verspricht" genannt.
    Porträt
    Reuven Firestone ist ein amerikanischer Rabbi und Koranexeperte. (priv.)
    Manche Kommentatoren betrachten unseren Vers indes als fehl am Platz. Kann es sein, dass es um einen anderen Ismael geht? Im 11. Jahrhundert schreibt der kurdische Rechtsgelehrte al-Mâwardî: "Einige behaupten, es handele sich vielmehr um den Sohn des Ezechiel. Gott sandte ihn zu seinen Leuten. Die aber [rebellierten gegen ihn] und zogen ihm den Skalp ab. Gott, der Allmächtige, erwählte ihn aufgrund seiner Standhaftigkeit, sich diesem Übergriff zu stellen."
    Der Koran beschreibt oft Gemeinschaften, die es ablehnen, ihren Propheten zuzuhören, und dann der Vernichtung anheimfallen. Selten aber stellt die islamische Literatur Propheten dar, die von ihrem Volk gefoltert werden.
    In der schiitischen Version der Geschichte bekommt Ismael nicht nur die Kopfhaut abgezogen, sondern auch noch die Gesichtshaut. Daraufhin fragt ein Engel Ismael, wie man ihn entschädigen könne. Er antwortet: "Lass mich ein Vorbild für Hussein sein!"
    Hussein ist ein zentraler schiitischer Märtyrer. Der Tradition nach werden er und seine Anhänger unrechtmäßig und brutal ermordet. Geschehen in der Schlacht von Kerbela, die schiitische Gemeinden bis heute Jahr für Jahr mit großer Emotion feierlich nachspielen. Ismael, der Sohn des Ezechiel, kündigt nach dieser Lesart Husseins Leiden an.
    Aber warum Ismael? Die islamischen Quellen schweigen über den Sohn des Ezechiel. Warum? Wir wissen praktisch nichts über ihn.
    Es gibt die jüdische Tradition der "Zehn Märtyrer" (Aseret Harugei Malchut). Die Legende beschreibt Leid und Tod berühmter Rabbiner auf Geheiß des römischen Kaisers Hadrian im 2. Jahrhundert. Einer nach dem anderen wird auf schrecklichste Weise umgebracht. Als die Reihe an Is(ch)mael ben Elis(ch)a ist, bemerkt die Tochter des Kaisers sein gutes Aussehen. Sie bittet ihren Vater, ihn zu verschonen. Der Kaiser lehnt ab, erlaubt ihr aber, sein Gesicht zu behalten und lässt es ihm bei lebendigem Leib herunterreißen. Nach diesem Martyrium verkündet der Engel Metatron, Is(ch)maels Pein diene als Sühne für seine Nachkommen, die Juden.
    Wir sehen, es gibt auffallende Parallelen des Leidens, des Märtyrertums und der Erlösung. Auch in der christlichen Tradition sind diese Motive bekannt. Die gleichen Auswüchse menschlicher Brutalität und unschuldigen Leids finden bei Juden, Christen und Muslimen einen ähnlichen Widerhall.