Donnerstag, 28. März 2024

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Sure 2 Vers 17
Was ein Feuer in der Wüste lehrt

Gleichnisse mit Licht und Feuer gibt es häufiger im Koran. Die traditionelle Auslegung sieht in den Gegensätzen hell und dunkel gerne Anspielungen auf die Gläubigkeit der Menschen. Mit dem heutigen Wissen aus Naturwissenschaft und Technik betrachtet, können aber auch andere Schlussfolgerungen gezogen werden.

Von Prof. Dr. Nasser Rabbat, Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge, USA | 11.11.2016
    "Bei ihnen [den Heuchlern] ist es wie bei dem, der ein Feuer anzündete. Nachdem es um ihn herum Helligkeit verbreitet hatte, nahm Gott ihr Licht weg und ließ sie in Finsternis zurück, so dass sie nichts sahen."
    Dieser Vers ist eine der faszinierendsten Erörterungen des Themas "Licht" im Koran. Klassische Koran-Interpretatoren wie at-Tabarî um das 9. und 10. Jahrhundert herum, Ibn Kathîr im 14. Jahrhundert oder as-Suyûtî im 15. Jahrhundert liefern die banalsten Auslegungen dieses schönen Verses. Aus ihrer Sicht zeigt er an, dass sich jemand vom Zustand der Schwäche oder des opportunistischen Glaubens - im Arabischen "nifâq" genannt (zu deutsch: Heuchelei oder Doppelzüngigkeit) - hin zum besorgniserregenden Zustand des "kufr" oder "schirk" bewegt - also zur Leugnung der Göttlichkeit Gottes. Dieser Zustand sei vergleichbar mit Blindheit, einem Merkmal der Ungläubigen, die vorgäben anders zu sein, um ihre schändlichen Ziele zu erreichen oder die Pflichten des wahren Glaubens zu umgehen.
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    Bekannte moderne Koran-Interpretatoren wie Muhammad Mutawallî ash-Sha’râwî im 20. Jahrhundert fügten dem nur einige wissenschaftlich unterlegte Details zur Definition von Licht hinzu wie selbsterzeugt oder reflektiert, um zwischen den arabischen Begriffen für Licht: "nûr" und "daw’" zu unterscheiden. Aber auch sie interpretieren die Dunkelheit als Gottes direktes Handeln mit dem Ziel, die falschen Gläubigen (arabisch: munâfiqûn, abgeleitet von nifâq) für ihre Heuchelei zu bestrafen.
    Der Vers ist aber phänomenologisch weitaus vielschichtiger als die einfallslose orthodoxe Erläuterung nahelegt. Mit der Sensibilität der Moderne gelesen, deckt der Vers sowohl ein tieferes Verständnis von Physik auf, insbesondere von Optik und Dioptrik, als auch eine philosophische Wendung, mit der das Gleichnis vom Sehen und Nichtsehen im Licht für den Status des Glaubens oder aber des Wissens steht.
    Nasser Rabbat vor dem Bild "Le desert" von Guillaumet im Musée d'Orsay.
    Nasser Rabbat vor dem Bild "Le desert" von Guillaumet im Musée d'Orsay. (priv.)
    Feuer, also künstliches Licht, ist trügerisch, wenn es Sehen ermöglicht - vor allem auf offenem Gelände mit riesiger Ausdehnung wie etwa einer Wüste. Jemand kann ein Feuer anzünden, das ihm oder ihr erlaubt, die unmittelbare Umgebung, in der man sich befindet, zu sehen. Dasselbe brennende Feuer aber wird es noch erschweren, etwas zu sehen, was jenseits dessen liegt, das sein Lichtschein direkt anleuchtet.
    Wir haben hier sowohl eine empirische Beobachtung als auch eine Allegorie über die Grenzen des menschlichen Wissens. Denn ganz gleich wie beruhigend unsere Kraft zu Sehen ist, weil wir dann verstehen, was um uns ist, so gibt es doch viel jenseits unseres Verständnisses, das durch einen übertrieben selbstbewussten aber doch kurzsichtigen Einblick versperrt werden kann.
    Als solches kann das Gleichnis auch auf die menschliche Eitelkeit im Allgemeinen angewendet werden, nicht nur auf die Kategorie falscher Gläubiger, die die klassischen Koran-Interpretatoren benennen. Die großspurige Versicherung einer fokussierten Untersuchung irgendeines Problems könnte dessen größeren, bestimmenden Kontext verschleiern oder im Unklaren lassen. So wie Feuer die Wahrnehmung seiner unmittelbaren Umgebung verstärkt, während es seine entferntere Umgebung weiter verdunkelt.
    Das Beispiel wäre ohne Weiteres von Reisenden in der Wüste verstanden worden, die, um ihren Weg zu finden, abhängig vom schummrigen Licht der Sterne sind. Sie hätten es ebenso verstanden wie Bewohner bewaldeter Gebiete das Gleichnis vom Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht. Offensichtlich haben wir es hier mit einer universellen Lehre von ewiger Relevanz zu tun.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.