Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Sure 2 Vers 208
Der Islam zwischen den Kulturen

Der Islam ist eine Religion ohne Oberhaupt. Er kann jede Kultur, Nationalität und Ethnie aufnehmen, mit der er in Kontakt kommt. All das macht aus ihm die weltweit am schnellsten wachsenden Religionsgemeinschaft. Der iranisch-amerikanische Religionswissenschaftler und Bestseller-Autor Reza Aslan zeichnet den ureigenen Charakter des Islams nach.

Von Prof. Dr. Reza Aslan, University of California, Riverside, USA | 06.04.2018
    "Oh ihr, die ihr glaubt, tretet allesamt ein in den Islam und folgt nicht den Fußstapfen des Satans! Er ist euch ja ein ausgemachter Feind."
    Der Islam ist eine der vielfältigsten Religionen der Erde. Mit mehr als 1,5 Milliarden Anhängern bildet er zudem die weltweit am schnellsten wachsende Religionsgemeinschaft.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Trotz einer solch breiten und rasch größer werdenden Basis hat der Islam keine zentrale religiöse Autorität. Es gibt keinen muslimischen Papst, keinen muslimischen Vatikan, keine einzelne Quelle oder Autorität. Es gibt nichts und niemanden, der festlegt, wer Muslim ist oder nicht. Nichts und niemanden, der bestimmt, was ein angemessenes islamisches Verhalten ist und was nicht.
    Selbstverständlich kennt der Islam Rechtsschulen und religiöse Gelehrte - arabisch: "ulamâ". Sie diskutieren untereinander theologische und rechtliche Fragen. Aber keine dieser Rechtsschulen oder Gelehrten hat die Macht dazu, ihre spezifische Sichtweise einer anderen Rechtsschule oder einem anderen Gelehrten aufzuzwingen. Anders gesagt, Muslime sind frei, einer Rechtsschule oder einem Gelehrten ihrer Wahl zu folgen.
    Reza Aslan sitzt in Indien auf einem Verandageländer vor einem Haus. 
    Reza Aslan ist ein iranisch-amerikanischer Religionswissenschaftler und Bestseller-Autor, der auch für den Fernsehsender CNN arbeitet. (imago)
    Dank dieser Autonomie kann der Islam als Weltreligion jede Kultur, jede Nationalität und jede Ethnie aufnehmen, mit der er in Kontakt kommt. Die saudiarabische Form des Islams ist nicht die ägyptische, und diese wiederum ist nicht die indonesische, welche sich von der iranischen abhebt, die nicht der amerikanischen Form des Islams entspricht. Es ist unmöglich, den Islam von dem Boden zu trennen, in den er gepflanzt w urde.
    Aus diesem Grund erfährt man die Erscheinungsform dieser Religion - also wie sie gelebt wird und wie sie verstanden wird - auf so unterschiedliche Weise. Es hängt immer von der Kultur ab, in der der Islam praktiziert und zelebriert wird. Die Religion ist das Wasser und die Kultur das Schiff, das darauf fährt. Der Islam nimmt die Form jeder Kultur an, die auf ihn trifft.
    Der Prozess des Verschmelzen von Religion und Kultur wird noch entscheidender in Gesellschaften, in denen Muslime eine deutliche Minderheit ausmachen. Wenn das der Fall ist, hat die Mehrheitskultur zwei Möglichkeiten: Sie kann den Islam abwehren, ihn als fremdes und exotisches Gebilde erachten. Oder sie kann versuchen, sich mit ihm zu beschäftigen und ihn zu verstehen, ihn zu integrieren und an die eigene Kultur zu binden.
    Ein Weg dorthin führt über die Auseinandersetzung mit dem Koran. Muslime verstehen den Koran als das tatsächliche Wort Gottes. Es wurde über den Propheten Mohammed an die gesamte Menschheit herabgesandt - ungefiltert, uninterpretiert, unkommentiert.
    Jedes einzelne Wort ist mit der Gegenwart des Göttlichen erfüllt. Die Worte auf dem Papier beinhalten "baraka", sprich spirituelle Macht. Aus diesem Grund werden Koranverse auch als Talisman genutzt, auf Teller und Tassen geschrieben - sodass man buchstäblich die göttliche Kraft der Worte konsumiert, wenn man von ihnen isst und trinkt.
    Zum Teil wegen dieser den Worten innewohnenden Göttlichkeit bot sich der Text des Korans förmlich von allein für einen künstlerischen Ausdruck an. Und zwar durch die gesamte islamische Geschichte hindurch. Die ältesten noch vorhandenen Ausgaben des Korans sind Werke von unvorstellbarer Schönheit. Sie wurden bewusst geschaffen, um ästhetisch zu gefallen. Und Jahrhunderte später ist der künstlerische Ausdruck immer noch wesentlich für die Art und Weise, wie Muslime ihr heiliges Buch verstehen.