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Sure 2 Vers 255
Den Koran wörtlich nehmen

Schon früh nach dem Tod des Propheten Mohammed wurde über die Frage diskutiert, ob man die Worte im Koran wörtlich oder im übertragenen Sinn verstehen soll. Der Streit dauert bis heute an.

Von Prof. Behnam Sadeghi, ph.d., University of California, Los Angeles, USA | 07.10.2016
    "Sein Schemel reicht weit über die Himmel und die Erde."
    Mit Schemel ist hier das gemeint, was ein König vor seinen Thron stellte, um seine Füße drauf ruhen zu lassen. Wenn man sagt, das Universum sei in Gottes Schemel enthalten, illustriert das seine Größe im Vergleich zum Menschen und zur Welt.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Vormoderne Koranexegeten stimmten darin überein, dass der Vers Gott glorifiziere. Bei der Frage, ob der Schemel oder - weitergefasst - der gesamte Thron tatsächlich existiert oder ob es sich um eine Metapher handelt, vertraten sie indes unterschiedliche Auffassungen. Die Interpretationen lassen sich in ein Spektrum einordnen, das von der rein metaphorischen bis zur rein buchstabengetreuen und gegenständlichen Auslegung reicht.
    Auf der einen Seite des Spektrums stehen einige frühe Vertreter der sogenannten ahl al-hadith – zu Deutsch: Anhänger der prophetischen Tradition. Sie überlieferten Berichte, die besagen:Als Gott auf dem Thron saß, "blieb davon so viel Platz übrig, wie vier Finger einnehmen" und "es gab ein Knirschen ähnlich dem eines neuen Kamelsattels unter der Last eines Reiters." Indem solche Überlieferungen Dimensionen und Geräusche beschreiben, implizieren sie, dass Gott in einem physikalischen Sinn auf einem Thron sitzt.
    So eine Auffassung dürfte allerdings nur eine Minderheit unter den "Anhängern der prophetischen Tradition" vertreten haben. Für die meisten hat Gott keinen Körper und sitzt nicht auf einem Thron, wie ein Mensch es tun würde. Die Mehrheit ging zwar auch davon aus, dass Gott prinzipiell auf einem Thron sitzt, sie lehnte es aber ab, darüber zu spekulieren, wie oder in welchem Sinn er das tut.
    Auf der anderen Seite des Spektrums steht die metaphorische Auslegung einer Gruppe, die Mu’taziliten genannt wurde. Die Mu’taziliten interpretierten Verse, die Gott menschenähnlich (anthropomorph) beschreiben, stets metaphorisch. Sie glaubten, dass koranische Aussagen wie, Gott habe Hände, befindet sich an einem Ort oder bewege sich von einem Ort zum anderen, im übertragenen Sinn verstanden werden müssen. Sie verneinten also, dass es einen Thron beziehungsweise einen Schemel gibt. Für sie steht der Schemel für Gottes Würde, Wissen oder Herrschaft, nicht für einen echten Gegenstand.
    Das Aufeinanderprallen gegensätzlicher Ansichten führt oft zum Entstehen von Zwischenpositionen, die jeweils Elemente beider Seiten kombinieren. So kamen zwei neue Gruppierungen auf, genannt Aschariten und Maturiditen.
    Sie interpretierten den Begriff "Thron" wortwörtlich, Gottes Sitzen jedoch metaphorisch. Sie glaubten zwar wie die Anhänger der prophetischen Tradition (ahl al-hadith), dass es tatsächlich einen Thron und einen Schemel gibt. Aber wie die Mu’taziliten glaubten sie nicht, dass Gott wirklich auf dem Thron sitzt, denn Gott ist weder physisch noch nimmt er Raum ein.
    Was mag die ascharitischen und maturiditischen Theologen zu dieser Annahme bewogen haben? Ihr Prinzip bestand darin, die wortwörtliche Bedeutung so lange zu akzeptieren, bis diese mit dem menschlichen Wissen kollidiert.
    Die Existenz eines kosmischen Throns und Schemels widersprach vor tausend Jahren nicht dem menschlichen Wissen. Schließlich konnte die Existenz weder durch Beobachtung widerlegt noch gestützt werden. Folglich konnte man die wortwörtliche Bedeutung akzeptieren.
    Aber die Idee, dass Gott auf einem Thron sitzt, verletzte nach Auffassung dieser Theologen das durch menschliche Vernunft gewonnene Wissen: Denn ein ewiges Wesen kann nicht physischer Natur sein. Um ihre These vom ewigen Wesen zu belegen, nutzten sie philosophisches Denken, das griechischen Vorstellungen der Antike ähnelt.
    Es hat sehr verschiedene Ansätze zur Interpretation des Korans gegeben. Aber eines haben alle gemein: Sie gründen auf früheren Vermutungen über die Sprache, die Welt und über Gott. Denn letztlich ist es schlicht unmöglich, einen Text zu interpretieren, ohne dabei Vermutungen zu tätigen.