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Sure 2 Verse 178-179
Vergeltung und Blutrache

Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das Prinzip der Rache hat eine lange Geschichte. In den vergangenen Jahrhunderten richtete es großen Schaden an. Auch der Koran kam an einer Regelung dieses Themas nicht vorbei.

Von Dr. Caner K. Dağlı, College of the Holy Cross, Worcester, USA | 03.03.2017
    "Es ist Pflicht, im Fall von vorsätzlichem Totschlag, Vergeltung zu üben. Ein Freier für einen Freien, ein Leibeigener für einen Leibeigenen und eine Frau für eine Frau. Wenn aber die Angehörigen des Ermordeten dem Täter verzeihen, ist eine Ersatzsumme zu entrichten. Die Begleichung muss korrekt und unverzüglich erfolgen, und die Angehörigen des Toten haben sich tolerant zu verhalten. Dieser Verfügung Gottes wohnen Erleichterung und Barmherzigkeit inne. Wer sie dann überschreitet, zieht sich eine peinvolle Strafe zu. Die von Gott geregelte Vergeltung sichert euch das Leben."
    In vielen vor-modernen Gesellschaften war der nächste Verwandte verantwortlich für die exakte Vergeltung eines Mordes. In einigen Fällen konnte es vorkommen, dass ein Stamm oder Klan auf jemand anderes abzielte als auf den Mörder selbst. Sie wählten dann eine Person, die im Rang höher stand als das eigentliche Opfer, um die Stammesehre aufrechtzuerhalten.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Solche Vergeltungsmaßnahmen konnten häufig eine Eskalation zur Folge haben. Auf eine Rachetat folgte die nächste, und das ursprüngliche Verbrechen wurde irrelevant. Man kennt so etwas auch von Blutrache-Fällen, die sich im Laufe der Geschichte in anderen Kulturen zugetragen haben.
    Caner Dağlı
    Dr. Caner Dağlı lehrt am "College of the Holy Cross", einer Jesuitenhochschule in Worcester, Massachusetts (priv.)
    Das Gesetz der Vergeltung im islamischen Recht hatte zum Ziel, eine angemessene Bestrafung für ein Verbrechen zu erreichen. Der nächste Angehörige des Opfers, dem die Entscheidung über die Verfahrensweise mit dem Täter oblag, konnte einer - und nur einer - der folgenden drei Handlungsoptionen nachgehen: erstens die Tötung des Täters verlangen, zweitens eine Entschädigungszahlung also "Blutgeld" einfordern und drittens dem Täter vergeben.
    Die Bestrafung durfte nur von einer dazu ermächtigten Behörde durchgeführt werden. Das Recht auf Vergeltungsmaßnahmen galt nicht für ausländische Feinde, die in Übereinstimmung mit dem islamischen Kriegsrecht getötet wurden.
    Die Aussage "eine Frau für eine Frau" meint, die Vergeltung solle weder hinter der angemessenen Reaktion auf ein Verbrechen zurückbleiben noch diese überschreiten. Sie besagt nicht, dass unbedingt eine Frau getötet werden muss, wenn eine Frau ermordet wurde. Die Aussage beschränkt die Vergeltung vielmehr auf einen genauen und fairen Grad der Kompensation, wonach ausschließlich der Täter zur Verantwortung gezogen wird.
    Beim Blutgeld entsprach die Höhe der vorgeschriebenen Summe für eine getötete Frau im Allgemeinen der Hälfte der Summe, die für einen getöteten Mann zu zahlen war. Diese Aufteilung spiegelt sowohl die wirtschaftliche und gesellschaftliche Position von Männern und Frauen wider als auch die Unterschiede beim zu erwartenden finanziellen Verlust für die Familie des Opfers. Das ist übrigens nicht unähnlich den heutigen Zivilklagen in den USA im Fall von so genannter widerrechtlicher Tötung ("wrongful death").
    Diese Regeln ähneln auch dem "lex talionis" im Römischen Recht sowie den alten angelsächsischen wie den anderen europäischen Rechtstraditionen und den Gesetzen des Tanachs, der hebräischen Bibel.
    Es mag überraschend klingen, dass in den eingangs zitierten Versen von "Erleichterung" und "Barmherzigkeit" im Zusammenhang mit Vergeltung die Rede ist. Islamische Juristen erklärten, das beziehe sich darauf, dass bei Totschlag Blutgeld statt Tötung akzeptabel und auch Vergebung eine Möglichkeit sei.
    Ferner besagen die Verse, in diesen Vergeltungsregeln stecke "Leben". Damit ist gemeint, dass die Regeln künftige Verbrechen verhinderten, konkreten Wert auf jedes menschliche Leben legen und Rache strikt auf die Exekution des Täters begrenzten.
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.