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Sure 2 Verse 6-7
Schicksal oder warum manche Muslime sind und andere nicht

Bestimmt ein allmächtiger Gott, dass einige Menschen Muslime werden und andere nicht, oder verfügen Menschen über einen freien Willen? Das ist eine der meistdiskutierten Fragen der islamischen Theologie. Und der Streit darüber währt seit 1.300 Jahren.

Von Prof. Dr. Frank Griffel, Yale Universität, New Haven, USA | 06.07.2018
    "Denen, die ungläubig sind, ist es gleich, ob du sie warnst, oder nicht. Sie glauben so oder so nicht. Gott hat ihnen Herz und Gehör versiegelt, und ihre Sicht ist verhüllt. Sie haben dereinst eine gewaltige Strafe zu erwarten."
    In diesem Vers wendet sich Gott an Mohammed und tröstet ihn, weil manche Leute seine Botschaft verwerfen und nicht Muslime werden. Er solle sich nicht darüber grämen und sich keine Vorwürfe machen, er hätte etwas falsch gemacht. Jene Menschen, die, wie es hier heißt, "nicht glauben", handelten so, weil sie gar nicht anders könnten. Gott selbst habe sie taub und blind gemacht für die Botschaft des Islams.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Warum das so ist, darüber streiten sich muslimische Theologen seit mehr als 1.300 Jahren. Fachr al-Dîn al-Râzî, ein Philosoph und einflussreicher Koran-Kommentator aus dem 12. Jahrhundert, schreibt, dieser Vers spreche ein wichtiges theologisches Problem an: Haben Menschen einen freien Willen und können wählen, ob sie den Islam annehmen, oder ist ihr Handeln durch Gott prädestiniert? Bestimmt Gott also, ob jemand Muslim wird oder nicht?
    Zu Anfang der muslimischen Theologie hat eine Gruppe - die Mu’taziliten - behauptet, die Menschen handelten frei und bestimmten selbst, ob sie Muslime würden. Diese Theologen haben das Versiegeln der Herzen als Strafe angesehen, die jenen widerfährt, die sich gegen den Islam entscheiden. Gott belohne Menschen, meinten sie, die den Islam annehmen, und bestrafe die, die diese Religion bewusst ablehnen, mit einem kalten, versiegelten Herzen und mit Blindheit für die Botschaft des Islams.
    Prof. Dr. Frank Griffel
    Prof. Dr. Frank Griffel hat ausführlich zum Thema Apostasie im Islam geforscht. (privat)
    al-Râzî weist zu recht darauf hin, dass das eine etwas gezwungene Lesart des Verses sei. Der Vers besage ja, jene, die den Islam ablehnten, täten dies "weil" sie ein versiegeltes Herz hätten. Gott betone hier also ganz deutlich, führt al-Râzî aus, dass er die Herzen versiegele, "bevor" sie sich für den Islam entscheiden könnten.
    Gott macht folglich einige Menschen zu Muslimen und verursacht, dass andere den Islam ablehnen. Dies ist die sunnitische Lehre der göttlichen Vorherbestimmungen. Nicht-Muslime machen sich manchmal mit dem Begriff "Kismet" - vom türkischen Wort für "Los" oder "Schicksal" abgeleitet - darüber lustig.
    In seinem Koran-Kommentar gibt al-Râzî eine für ihn wissenschaftliche und philosophische Erklärung ab. Wenn wir uns für Dinge in unserem Leben entscheiden, glauben wir nur, dass diese Entscheidungen frei sind. In Wirklichkeit seien sie durch unsere Motivationen bestimmt sowie durch das, was wir wissen, was wir hoffen, und was wir uns ausmalen. Diese Bewusstseinszustände seien Ursachen für unsere Handlungen.
    Nun sind unsere Bewusstseinszustände aber selbst Wirkung anderer Ursachen. Sie folgen etwa unserer Erziehung, unserer Schulbildung oder vielleicht den Büchern, die wir gelesen, und den Filmen, die wir gesehen haben.
    Diese Bücher, Filme und Erziehung sind wiederum selbst Wirkung anderer Ursachen. Und so geht es fort, bis alle kausalen Ketten in einer einzigen Ursache enden. Diese Ursache ist Gott.
    Gott setzt nun jene anderen Wirkungen wie Bücher, Filme, Erziehung als Mittel ein, um einige Menschen zu Muslimen zu machen und andere nicht.
    Man glaube nun nicht, merkt al-Râzî an, dass dies alles zufällig sei und Gott sich nichts dabei denke. Jeder einzelne Flügelschlag einer Mücke, so sagen es sunnitische Theologen, sei durchdacht und vorherbestimmt. Nicht direkt vorherbestimmt, konkretisiert al-Râzî, sondern durch die kausalen Ursachen bewirkt, die diesen Flügelschlag auslösen.
    Gemäß sunnitischer Vorstellung ist also jedes Ereignis dieser Welt, jetzt oder in Zukunft, durch Gottes Willen vorherbestimmt. Deshalb empfiehlt der Koran an anderer Stelle, dass die Gläubigen, wenn sie über ihre künftigen Taten reden, nicht einfach sagen: "Ich werde das machen", sondern stets die Worte hinzufügen: "so Gott will" - arabisch: "in sha’ allâh".