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Sure 25 Vers 53
Zwei rätselhafte Gewässer

Schon in der Antike hat man sich viele Gedanken über die Beschaffenheit der Erde gemacht. Um zu verstehen, vertrauten viele Menschen den Schilderungen in ihren Heiligen Schriften. Doch diese kosmologischen Beschreibungen sind heute nicht mehr so leicht zu verstehen. Was etwa ist mit "den beiden Gewässern" gemeint, das eine süß, das andere salzig?

Von Dr. Tommaso Tesei, The Van Leer Jerusalem Institute, Israel | 20.07.2018
    "Und er ist es, der den beiden Gewässern freien Lauf gelassen hat - das eine wohlschmeckend, süß, und das andere salzig, bitter; und zwischen ihnen hat er eine Scheidewand und eine sichere Schranke gemacht."
    Die Existenz von zwei Gewässern wird an fünf Stellen im Koran erwähnt (Sure 18 Verse 60-65; 27:61; 35:12; 55:19-20), eine haben wir gerade gehört. Hier und an zwei weiteren Stellen werden sie zudem als kosmische Körper mal aus süßem, mal aus salzigem Wasser beschrieben (27:61, 35:12).
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Ferner wird ein Gebiet erwähnt, wo sich die beiden Gewässer treffen. Laut Sure 18 (Verse 60-65) ist das der Ort, den Moses am Ende einer Reise erreicht.
    Liest man diese Koranstellen vor dem Hintergrund spätantiker Kulturvorstellungen beziehungsweise der biblischen und nachbiblischen Kosmologie, scheint klar zu werden: Die zwei Gewässer stimmen mit den Wassern unterhalb und oberhalb des Firmaments überein, von denen die Bibel im 1. Buch Mose, der Genesis, spricht (Verse 6-8).
    Porträt von Tesei
    Dr. Tommaso Tesei arbeitet am The Van Leer Jerusalem Institute in Israel. (priv.)
    Syrische Texte enthalten präzise Parallelen zur koranischen Kosmologie. Ein Beispiel liefert Ephrem der Syrer in seinem "Kommentar zur Genesis". Demnach wurden die unteren Wasser salzig, als Gott sie am dritten Tag der Schöpfung in den Meeren sammelte. Die oberen Wasser blieben dagegen süß, weil Gott sie nicht als Gewässer auf dem Land zusammenkommen ließ.
    Für das Verständnis des Verses relevant ist auch eine Predigt des Kirchenlehrers Narsai von Nisibis. Als er über die Erschaffung des Firmaments spricht, sagt er: "Oh, du Gleichgewicht, welches die große Wasserzisterne teilte und in zwei Meeren sammelte, eines im Himmel und eines in der Tiefe."
    Obwohl der Koran nicht aufs Firmament zwischen beiden Gewässern eingeht, erwähnt er verschiedene Dinge, die sie voneinander trennen. Im eingangs zitierten Vers ist im Arabischen die Rede von "barzakh" - hier übersetzt mit "Scheidewand" - und von "hidschr mahdschûr" - hier übersetzt mit "sichere Schranke".
    Der Begriff "barzakh" wird auch an anderer Stelle im Koran als Abtrennung für die kosmischen Ozeane erwähnt (55:20). Ferner wird "barzakh" benutzt, um ein Hindernis zu bezeichnen, das die Toten davon abhält, in die Welt der Lebenden zurückzukehren (23: 99-100). Somit scheint der Begriff im Koran sowohl eine kosmologische als auch eschatologische Bedeutung zu haben. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff "hidschr mahdschûr". Einige Verse früher in Sure 25 wird eine Szene beschrieben, bei der Engel eben diese Worte ausrufen, während sie Sündern den Weg zum Paradies versperren.
    Die Deckungsgleichheit beider Begriffe ist auffällig: Sie kennzeichnen eine Art von Trennung, die zwischen zwei Gewässern gesetzt ist, und dienen gleichsam als Wort für eine eschatologische Barriere, die einerseits die Toten davon abhält, in diese Welt zurückzukehren, und andererseits Sünder am Betreten des Paradieses hindert.
    Möglicherweise spiegelt diese Situation Vorstellungen über die sakrale Erdbeschreibung wider, die zur spätantiken kosmologischen Bildersprache gehörten. Für gewöhnlich stellte man sich damals vor, dass der Eintritt zum Paradies und zum Reich der Toten am Rande der Welt gelegen sei - genau genommen dort, wo sich Firmament und Ozean kreuzen, wo sich die beiden kosmischen Meere treffen.
    Weitere Details über die Beschaffenheit der beiden Gewässer und der angrenzenden Gebiete lassen sich aus der Beschreibung von Moses Reise ableiten, wo der Zusammenfluss beider erwähnt wird (18:60-65). Vom literarischen Hintergrund dieser Erzählungen - insbesondere von den spätantiken Legenden Alexanders des Großen - lernen wir, dass dieser Platz wiederum mit dem Paradies in Verbindung gebracht worden ist.