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Sure 31 Vers 27
Von Schreibrohren und Tinten-Meeren

Die Worte des Korans sind nicht selten in eine poetische Form gegossen. Für Muslime macht das den unverwechselbaren Charakter ihrer Heiligen Schrift aus. Dem Glauben nach sind die Worte im Koran Gottes eigene Worte. Der Koran hört nun nach 114 Suren auf. Hat Gott somit alles gesagt, was er sagen wollte? Koranexperten sehen in den Antworten Chancen für den interreligiösen Dialog.

Von Prof. Dr. Georges Tamer, Universität Erlangen-Nürnberg | 18.03.2016
    "Wenn auf Erden aus [allen] Bäumen Schreibrohre würden und das Meer [Tinte] wäre, und [wenn es erschöpft ist], sieben weitere Meere ihm Nachschub brächten, so wären Gottes Worte [dennoch] unerschöpflich. Gott ist mächtig, weise."
    Auf eindrucksvoll rhetorische Art bringt dieser Vers die theologische Lehre zum Ausdruck, dass Gottes Worte unendlich sind. Selbst wenn alle Bäume der Welt Stifte und die Meere Tinte wären, würden sie nicht ausreichen, um Gottes Worte schriftlich zu erfassen.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Die arabische Formulierung des Versanfangs lässt keinen Zweifel daran, dass die Gesamtheit der Bäume auf Erden gemeint ist; ebenfalls deutet die Zahl sieben symbolisch auf die unendliche Zahl der Meere hin.
    Professor Georges Tamer
    Georges Tamer lehrt an der Universtiät Erlangen-Nürnberg, wo vor ihm bereits viele bekannte Arabisten und Islamwissenschaftler tätig waren. (G. Tamer)
    Damit macht der Koran klar, dass nichts auf der Welt die Worte Gottes uneingeschränkt erfassen kann. Die Unendlichkeit Gottes wird so mit der Begrenztheit der Welt kontrastiert und auf diese Weise prägnant hervorgehoben.
    Ähnlich lautet Vers 109 aus Sure 18: "Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte meines Herrn, würde es noch vor ihnen zu Ende gehen, selbst wenn wir es an Masse verdoppeln würden."
    Die exegetische Literatur berichtet, dass der Vers, den wir heute besprechen, infolge eines Gesprächs verkündet worden sei, das Mohammed mit jüdischen Gelehrten über den Umfang des in der Thora enthaltenen Wissens geführt habe. Mohammed solle dabei die Ansicht vertreten haben, dass das in der Thora enthaltene Wissen nur einen kleinen Teil des unendlichen Wissens Gottes ausmache. Der Vers des Korans ist demnach zur Bestätigung dieser Überzeugung verkündet worden.
    Indem der Koran die von Menschen und Materie unfassbare Unendlichkeit der Worte Gottes lehrt, erschließt er dem heutigen Leser neue Horizonte hinsichtlich der Betrachtung der Offenbarungen Gottes. Diese kann keine heilige Schrift – auch nicht der Koran selbst – ausschöpfend erfassen. Dementsprechend enthalten die heiligen Schriften nicht die Fülle der Rede Gottes, sondern jeweils nur Teile davon.
    Gottes Worte sind unendlich, unfassbar, wie er selbst. Zu Ende gedacht, wird mit diesem Vers eine neue Ebene des interreligiösen Dialogs erschlossen. Alle heiligen Schriften ähneln sich darin, dass sie nur Bruchteile der unendlichen Rede Gottes enthalten. Ein Monopol darauf, Gottes umfassendes Wort zu sein, wird vom Koran nicht nur in Bezug auf die Thora, sondern gleichermaßen auf sich selbst negiert. Dieser Gedanke findet sich zwar nicht in der islamisch-exegetischen Literatur. Aber er lässt sich vom Text ableiten und ist in der islamischen Mystik präsent.
    Schließlich erinnert die hier erläuterte Koranstelle 31: 27 an den ähnlich strukturierten Vers 25 aus dem 21. Kapitel des Johannes Evangeliums: "Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; so sie aber sollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, die Welt würde die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären."
    Für die Christen ist Jesus das leibgewordene Wort Gottes, von dem die Evangelien berichten. Allerdings wird für die Evangelien nicht der Anspruch erhoben, das Leben und Wirken Jesu restlos zu erfassen. Gott ist jenseits des menschlichen Auffassungsvermögens. Seine Offenbarungen können nach menschlichen Kriterien nur teilweise erfasst werden.