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Sure 39 Vers 6
Über die Schwangerschaft

Schwangerschaft spielt bereits im Koran eine Rolle, der vor mehr als 1.400 Jahren entstanden ist. Wie so oft, ist auch der Vers in diesem Fall nicht gleich verständlich. So ist die Rede von dreierlei Finsternis, in der ein Mensch hervorgebracht wird.

Von Prof. Dr. Thomas Eich, Universität Hamburg | 06.10.2017
    "Er erschafft euch im Leib eurer Mutter in einem Schöpfungsakt nach dem andern, (wobei ihr euch, ehe ihr das Licht der Welt erblickt, nacheinander) in dreierlei Finsternis (befindet). So ist Gott, euer Herr. Er hat die Herrschaft (über Himmel und Erde). Es gibt keinen Gott außer ihm. Wie könnt ihr euch (vom rechten Weg) so abbringen lassen?"
    An mehreren Stellen kommt der Koran sozusagen in einem Atemzug auf die Anfänge der Schöpfung zusammen mit der Entstehung jedes einzelnen Menschen zu sprechen. Dieser Versauszug, den wir gerade gehört haben, drückt dabei in seiner Wortwahl deutlich den Gedanken aus, dass es sich bei dieser Entstehung individuellen menschlichen Lebens im Zuge einer Schwangerschaft um einen Schöpfungsakt handelt – etwas, das nur Gott kann.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Wie können da die Menschen, so die rhetorische Frage des Korans, sich von diesem Schöpfer und seinem Willen abbringen lassen? Sie verdanken doch schon ihre schiere Existenz allein seinem Handeln.
    Zur Beschreibung der Schwangerschaft bedient sich der Koran eines besonderen Ausdrucks: Gott erschafft die Menschen "in dreierlei Finsternis". Was konnte damit gemeint sein?
    Die Idee, dass eine Schwangerschaft in dreierlei unterteilt werden könne, ist in verschiedenen religiösen Traditionen des Nahen Ostens belegt.
    So findet sich in der Mischna - der mündlichen Lehre des Judentums - die Idee, das Ungeborene befinde sich während der Schwangerschaft hintereinander in drei verschiedenen Kammern. Im babylonischen Talmud wird diese Vorstellung um den Faktor Zeit erweitert. Dort heißt es, der Embryo befinde sich jeweils drei Monate in den jeweiligen Kammern, die Geburt erfolge also nach neun Monaten.
    Diese Vorstellung findet sich ganz ähnlich zum Beispiel in Überlieferungen der Schiiten. Dem sechsten Imam der Schiiten, Abû Dscha’far as-Sâdiq, wird ein entsprechender Ausspruch zugeschrieben. Darin kombiniert er die Idee des Durchlaufens der drei Kammern in jeweils drei Monaten mit medizinischen Überlegungen zur Versorgung des Kindes.
    Diese Überlieferungstradition findet sich in einem Abschnitt des schiitischen Gelehrten al-Kulaynî, der im Jahr 941 starb. An dieser Stelle werden verschiedenste Überlegungen darüber zusammengeführt, wie der Mensch entsteht. Primär geht es dort nicht darum, den Korantext auszulegen. Doch der Bezug zur Koranstelle "Er erschafft euch in dreierlei Finsternis" ist spürbar, sobald man sie in einen größeren Vorstellungshorizont der Religionen im Nahen Osten einordnet.
    In der Koranexegese wird das koranische Konzept der "dreierlei Finsternis" in der Regel mit drei Dingen erklärt, die das ungeborene Leben vor dem Licht abschirmten: die Bauchdecke, die Gebärmutter und die Plazenta.
    Auch in der vor-koranischen, jüdischen Tradition lässt sich eine Auslegungsvariante ausmachen, in der die drei Dunkelheiten nicht mit Kammern und Zeitspannen erklärt wurden, sondern mit Körperteilen der Schwangeren. Dieses Konzept ist ebenso in einem apokryphen Evangelium nachweisbar, das auf Arabisch vorliegt und erst vor kurzem der Forschung zugänglich gemacht wurde.
    Unabhängig davon, welcher Interpretation man mehr Gewicht geben will, wird deutlich, dass sich der Koran mit seiner Wortwahl bewusst einer Bildersprache bedient, die unter den religiösen Gemeinschaften des Nahen Ostens seiner Zeit weithin verstanden wurde.