Freitag, 19. April 2024

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Sure 4 Vers 135
Das Streben nach Gerechtigkeit

Wie in allen Religion spielt das Streben nach Gerechtigkeit auch im Islam eine zentrale Rolle. Doch wann handelt man gerecht? Befindet man sich nicht immer in einem Abwägungsprozess zwischen eigenen und fremden Interessen? Bevorzugt man nicht mitunter eine Meinung, nur weil sie von einem Freund kommt? Wo bleibt dann die Gerechtigkeit?

Von Dr. Tuba Isik, Universität Paderborn | 15.07.2016
    "O ihr, die ihr glaubt, bleibt fest in der Gerechtigkeit, wenn ihr Zeugnis ablegt gegenüber Gott, und sei es auch gegen euch selber oder eure Eltern und Verwandten, handle es sich um arm oder reich, denn Gott steht näher als beide. Und folgt nicht der Leidenschaft, sodass ihr abweicht vom Recht. Ob ihr euch auch hin und her wendet und abkehret, siehe, Gott weiß, was ihr tut."
    Die Sure 4 gehört zu den medinensischen Suren, d.h. den Offenbarungsversen, die dem Propheten Muhammad in der Stadt Medina offenbart wurden. Eine Zeit, in der ein Gemeinwesen unter Muslimen, Juden und Andersgläubigen etabliert wurde und folglich sich praktische Fragen des Zusammenlebens ergaben. Dieser Sure wurde der Name an-Nisa gegeben, was die Frauen bedeutet, weil es in dieser Sure an vielen Stellen explizit um die Frauen und Fragen rund um das Familienleben geht.
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    Viele Verse drehen sich auch um rechtliche Fragen, also um Gesetzgebung sowie die Beziehung zwischen Gläubigen und Nicht-Gläubigen. Im zitierten Vers werden zwei Punkte angesprochen, die sowohl in der Rechtsprechung als auch im alltäglichen Miteinander eine wichtige Rolle spielen: Alle gottgläubigen Menschen sind angehalten, erstens gerecht zu handeln und zweitens aufrichtig Zeugnis abzulegen und zwar ausdrücklich ohne Berücksichtigung der Umstände, des Gegenübers und der Folgen für einen selbst.
    Gerechtigkeit ist eine der zentralen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens. Ist allerdings gerecht zu sein so einfach wie man es sagt? Sind wir gerecht? Befinden wir uns nicht immer in einem Abwägungsprozess, in dem eigene und fremde Interessen und Bedürfnisse abgewogen, Pro und Contra erörtert, Argumente ausgetauscht werden? Beeinflussen uns positive oder negative Gefühle dem anderen gegenüber nicht bei der Entscheidungsfindung?
    Dr. Tuba Isik, Universität Paderborn in einem Hörfunkstudio des Deutschlandradio
    Dr. Tuba Isik von der Universität Paderborn (Deutschlandradio/Bettina Fürst-Fastré)
    Abwägungsprozesse sind von verschiedenen Motiven und Emotionen getragen, und das führt oft dazu, dass am Ende keine faire und gerechte Entscheidung getroffen wird. Es ist allzu menschlich, dass andere als edle Motive gerechtes Handeln torpedieren. Darauf macht Gott die Leser in diesem Vers überdeutlich aufmerksam.
    Jeder Gläubige ist für seine Taten verantwortlich und muss bei der Entscheidungsfindung fortlaufend in sich gehen und sich versichern, dass er nicht eine Meinung oder eine Position bevorzugt, weil sie von einem Familienangehörigen, Verwandten oder Freund vertreten wird. Auch darf weder die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Position eines Gegenübers, noch Eigennutz eine Rolle spielen.
    An einer anderen Stelle im Koran in Sure 5 Vers 8 wird Gerechtigkeit selbst in besonders schwierigen Situationen als Handlungsmaxime eingefordert - nämlich dann, wenn man einen anderen Menschen verabscheut oder sogar hasst. Es heißt: "O ihr, die ihr glaubt, steht fest in Gerechtigkeit, wenn ihr vor Gott Zeugen seid, und nicht verführe euch Hass gegen Leute zur Ungerechtigkeit. Seid gerecht. Das ist Näher der Gottesfurcht."
    Der Koran verlangt noch mehr von den Menschen: Sie sollen nicht schweigen, wenn sie Unrecht sehen. Das macht der letzte Teil des eingangs zitierten Verses deutlich. Sich herauszuhalten, wegzuschauen ist keine Option. Im Gegenteil: So ein Verhalten steht mit der Verdrehung der Wahrheit auf einer Stufe, denn es fördert Ungerechtigkeit.