Freitag, 29. März 2024

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Sure 4 Verse 78-79
Wie Gut und Böse entstehen

Wodurch kommt das Gute in die Welt und wodurch das Böse? Wie lässt sich ein allmächtiger Gott rechtfertigen, angesichts des Bösen und des Leids in der Welt? Über die Frage der Theodizee machen sich Muslime seit Jahrhunderten Gedanken und haben Antworten gefunden.

Von Prof. Dr. Reinhard Schulze, Universität Bern, Schweiz | 07.09.2018
    "Wenn sie etwas Gutes befällt, dann sagen sie: 'Dies ist von Gott!' Und wenn sie etwas Böses befällt, dann sagen sie: 'Dies ist von dir!' Sprich du: 'Alles ist von Gott!'."
    In Sure 4 finden sich zwei aufeinander folgende Verse, um deren richtige Auslegung Generationen von Exegeten gerungen hatten. Den ersten haben wir gerade auszugsweise gehört. In dem nachfolgenden Vers 79 heißt es:
    "Was dich an Gutem befällt ist von Gott; und was dich an Bösem befällt, ist von dir selber."
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Auf den ersten Blick scheinen sich beide Aussagen zu widersprechen. Denn wie kann alles, das Gute wie das Böse, von Gott kommen, und gleichzeitig festgelegt sein, dass nur das Gute von Gott stamme, während das Böse allein vom Menschen selbst herrühre?
    In der islamischen Theologie gilt Vers 79 manchen Gelehrten als Axiom - als absolut richtig erkannter Grundsatz. Sie sehen ihn im Kontext der Theodizee - also der Rechtfertigung Gottes, angesichts des Bösen und des Leids in der Welt. Für sie beweist er die weit verbreitete Auffassung, die schon seit dem Ende des 7. Jahrhunderts belegt ist, wonach das Übel nicht von Gott vorherbestimmt wurde.
    Porträt von Schulze. 
    Prof. Reinhard Schulze vom Institut für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie der Universität Bern (imago / Reiner Zensen )
    Der Mensch lebt demzufolge in einer Welt, die gut ist; sofern sein Handeln aber diesem Guten widerspricht, ist er für das so entstehende Böse selbst verantwortlich. Was der Mensch an Schlimmem erlebe, verdanke er seiner eigenen Sünde.
    Nach dieser Auffassung verfügen die Menschen über Willensfreiheit. Kaum ein Theologe zweifelte daran, dass durch das Du in Vers 78 jeder einzelne Mensch von Gott angesprochen wird.
    Zu Vers 78 gehört auch noch folgende rhetorische Frage: "Was ist mit diesen Leuten los, dass sie kaum jemals eine Rede begreifen?" Ist Vers 79 nun die Antwort darauf? Ist er gar eine Art Auslegung der vorausgegangenen Aussage: "Alles ist von Gott!"? War diese Auslegung notwendig, weil der Sachverhalt in Vers 78 zu schwer zu begreifen war?
    Spätere Korankorankommentatoren werden versuchen, beide Verse getrennt voneinander zu deuten. Nach ihrer Ansicht erinnert Gott in Vers 78 lediglich seinen Gesandten Mohammed daran, dass aus dessen Umfeld in Medina der Verdacht genährt wurde, das Gute, also der Erfolg und vor allem die Beute, werde den Menschen von Gott gegeben. Bei einem Scheitern, gar einer Niederlage indes werde er, der Prophet, zum eigentlich Verantwortlichen gemacht. Diese spätere historische Rationalisierung geht also davon aus, dass sich das Du in den Versen 78 und 79 nicht auf die gleichen Personen bezieht.
    Wie dem auch sei, diverse Exegeten sehen in Vers 79 eine Auslegung der vorangegangenen Aussage, dass alles von Gott stamme. Gott selbst lehre den Menschen, sagen sie, dass nur das Gute unmittelbar von Gott komme, während der Mensch durch sein Handeln das Böse erwähle und es damit in der Welt erschaffe.
    Zudem gelte Sure 2 Vers 216: "Vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht liebt ihr etwas, während es schlecht für euch ist."
    Mehrheitlich erkannten muslimische Exegeten an, dass wegen Gottes Gerechtigkeit der Mensch zum Bösen fähig sei, und die Möglichkeit zum Bösen von Gott stamme. Ob das Böse jedoch tatsächlich in die Welt gelange, stehe allein in der Verantwortung des Menschen.
    Dieser Befund ist nur eine von vielen Auslegungsmöglichkeiten. Er spiegelt das, was der Arabist und Islamwissenschaftler Thomas Bauer unter Bezug auf ein Konzept der Persönlichkeitspsychologie aus den 1970er Jahren als "Ambiguitätstoleranz" des Islams bezeichnet hat - als Fähigkeit, die Widersprüchlichkeit in ein und demselben Objekt erkennen und ertragen zu können. Die Verse 78 und 79 aus Sure vier stehen hierfür exemplarisch.