Donnerstag, 18. April 2024

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Sure 42 Vers 13
Eine schiitische Sicht auf den Koran

Es gibt zwei große Konfessionen im Islam: Sunniten und Schiiten. Prägend sind die Sunniten, da sie rund 80 Prozent aller Muslime ausmachen. Manche Schiiten glauben, die Sunniten hätten den Koran verfälscht und den Text so durcheinander geworfen wie er sich heute darstellt.

Von Prof. Dr. Mohammad-Ali Amir Moezzi, Sorbonne, Paris | 16.09.2016
    "Euch hat er als Religion verordnet, was er Noah geboten hatte, was dir offenbart worden ist und was wir Abraham, Moses und Jesus geboten haben."
    Hinter diesem Vers steckt die grundsätzliche Idee, dass die Botschaft Mohammeds jener der großen Propheten vor ihm gleicht und dass der Prophet des Islams ebenso wie seine Vorgänger damit auf den Widerstand der Ungläubigen in seinem Volk gestoßen ist.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Die bis heute gültige Standardausgabe des Korans nennt man den "Kodex des Uthmân". Uthmân war der dritte Kalif. Nach den Glaubensvorstellungen der Schiiten, der zweiten großen Konfession im Islam neben den Sunniten, gingen während der ersten drei, vier Jahrhunderte des Islams zahlreiche Anhänger der Schiiten davon aus, dass diese offizielle Version des Korans eine zensierte und verfälschte Ausgabe der Offenbarungen an den Propheten Mohammed gewesen sei. Ihnen zufolge gibt es in der Quellenliteratur dafür viele Hinweise.
    Nach dieser Sichtweise war der "ursprüngliche Koran" dreimal so umfangreich wie der offizielle. Zudem war er in der chronologischen Reihenfolge der Offenbarungen geordnet.
    Mohammad-Ali Amir Moezzi in seinem Büro
    Mohammad-Ali Amir Moezzi ist Professor an der "École pratique des hautes études", die zur weltberühmten Sorbonne in Paris gehört. (priv. )
    ‘Alî Ibn Abû Tâlib war der Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Zugleich war er dessen Vertrauter und Vater des einzigen männlichen Erben und legitimen Nachfolgers Mohammeds. ‘Alî allein war es, der dieser Sichtweise zufolge die ursprüngliche und ungekürzte Ausgabe des Korans besessen hat.
    Ebenso wie die vorkoranischen Heiligen Schriften ihre Überbringer und deren Zeitgenossen benennen, soll auch dieser ‚echte Koran‘ Mohammed, seine Familie, seine Freunde oder Feinde häufig namentlich erwähnt haben.
    Zahlreiche Passagen waren demnach ‘Alî gewidmet, seiner Ehefrau Fâtima - also Mohammeds Tochter -, ihren beiden Söhnen Hasan und Husain sowie der ‚walâya‘ von ‘Alî und seinen Nachkommen. Das sind all jene, die ‘Alî und seinen Nachkommen Freundschaft und Treue geschworen hatten, was sie zu wahren spirituellen und zugleich irdischen Führern der Gläubigen machte.
    Nach dem Tod des Propheten Mohammed putschten sich jedoch ‘Alîs Feinde und die Feinde seiner Familie an die Macht. Sie unterdrückten die Mitglieder der Familie des Propheten - auf Arabisch: ahl al-bayt - und deren Anhänger.
    Nach den alten schiitischen Quellen gingen die ersten Kalifen auf Basis dieses Verrats rasch dazu über, alle, wie sie meinten, ‚schädlichen‘ Stellen des Korans zu streichen. Das gilt insbesondere für die Stellen, die ‘Alî und dessen Nachkommen als Verbündete Gottes darstellen, und für die Stellen, die die nun an die Macht gelangten Feinde ‘Alîs und dessen Nachkommen verurteilen. So kam es, dass eine große Zahl von Textpassagen aus dem Koran getilgt wurde. Dazu gehören auch jene, die die Namen von Zeitgenossen Mohammeds enthielten.
    Um ihr Vorgehen zu verschleiern, brachten die Kalifen, genau genommen die Angehörigen der Omajjaden-Dynastie, die chronologische Reihenfolge der Offenbarungen des Korans völlig durcheinander.
    Diese Eingriffe trugen dazu bei, dem Koran seinen fragmentarischen, zusammenhanglosen Charakter zu geben, mit vielen schwer verständlichen Teilen, in denen das Leben Mohammeds und seiner Zeitgenossen mit einigen wenigen unbedeutenden Ausnahmen völlig fehlt.
    ‘Alî und seine Nachfahren hielten derweil die Originalausgabe des Korans vorsichtshalber versteckt. Nach der schiitischen Tradition wird sie erst am Ende aller Tage wieder enthüllt, wenn der eschatologische Erlöser kommt.
    Trotzdem sind in schiitischen Quellentexten hunderte Verse überliefert, die zu diesem "Kodex des ‘Alî" gehören sollen und die anders lauten als die offizielle Version des Korans.
    Beispiele dafür hören wir nächste Woche.