Donnerstag, 28. März 2024

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Sure 42 Vers 13
Eine schiitische Sicht auf den Koran

Unter Schiiten gibt es die historische Auffassung, dass der "wahre" Koran deutlich umfassender als der offizielle sei. Zudem soll er inhaltlich geordnet gewesen sein. Allerdings gilt diese "wahre" Ausgabe des Korans als verborgen. Dank Überlieferungen gibt es jedoch Einblicke in diese Version.

Von Prof. Dr. Mohammad-Ali Amir Moezzi, Sorbonne, Paris | 23.09.2016
    "Euch hat er als Religion verordnet, was er Noah geboten hatte, was dir offenbart worden ist und was wir Abraham, Moses und Jesus geboten haben. Ihr sollt die Religion aufrechterhalten und nicht darüber streiten. Die Ungläubigen sind zu überheblich, um das anzunehmen, wozu ihr sie aufruft. Gott erwählt, wen er will und leitet zu seinem Weg, wer sich andächtig und bußfertig ihm zuwendet."
    Dieser Vers wurde unzählige Male kommentiert, zunächst von muslimischen Religionsgelehrten, später von Orientalisten.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Weniger bekannt ist, dass es eine schiitische Version dieses Verses gibt und welche Bedeutung sie für die Glaubensdoktrin der - nach den Sunniten - zweiten großen Konfession im Islam hat.
    Hören wir uns daher die schiitische Version dieses Verses einmal an - Passagen, die im offiziellen Koran nicht enthalten sind, sind kursiv gesetzt: "Euch, oh Familie des Mohammed, hat er als Religion verordnet, was er Noah geboten hatte, was dir offenbart worden ist, oh Mohammed, und was wir Abraham, Moses und Jesus geboten haben. Ihr sollt die Religion der Familie Mohammeds aufrechterhalten und nicht darüber streiten, ihr sollt geeint bleiben. Die Ungläubigen sind es, die dem göttlichen Bund mit ‘Alî andere Bünde beigesellen. Sie sind zu überheblich, um das anzunehmen, wozu ihr sie aufruft, nämlich zum Bund mit ‘Alî. Gott, oh Mohammed, leitet zu seinem Weg, wer sich andächtig und bußfertig ihm zuwendet, wer seinem Aufruf zum Bund mit ‘Alî Folge leistet."
    Mohammad-Ali Amir Moezzi in seinem Büro
    Mohammad-Ali Amir Moezzi ist Professor an der "École pratique des hautes études", die zur weltberühmten Sorbonne in Paris gehört. (priv. )
    Diese Version wird durch zahlreiche traditionelle Quellen gestützt. Demnach besteht die "ewige Religion", also der Schwerpunkt aller prophetischen Botschaften, im Bund mit der Familie des Propheten (walâyat ahl al-bayt). Dieser Bund ist ein Bund mit theophanen Menschen - also Menschen, durch die sich Gott in der Welt manifestiert. Durch deren Existenz und durch deren Weitergabe der Attribute Gottes, kommt dieser Bund zum Ausdruck.
    Die Schiiten übernehmen hier Begriffe, die die Kommentatoren des Johannes-Evangeliums (besonders Kapitel 1 Vers 15 und Kapitel 8 Vers 58) sowie die Logos-Theologen um Ignatius von Antiochien und Justin den Märtyrer für Jesus Christus geprägt haben. Mohammed, ‘Alî, Fâtima und ihre Nachkommen verkörpern demnach das Wort Gottes, das von Anbeginn der Schöpfung an als eines der letzten Mysterien allen Daseins besteht und das die Grundlage der göttlichen Botschaft bildet.
    Das wird auch in der schiitischen Version anderer Koranverse ausgedrückt, etwa in Sure 20 Vers 115 - wieder im Sprecherwechsel vorgetragen: "Wir haben einst den Menschen verpflichtet auf die Worte von Mohammed, ‘Alî, Fâtima, Hasan, Husain und den Imamen aus deren Nachkommenschaft, doch er vergaß die Verpflichtung".
    Die Verkörperung des Wortes Gottes durch die Prophetenfamilie und die Imame kommt auch in der schiitischen Version des berühmten Verses zum Urvertrag zwischen Gott und seinen Geschöpfen zum Ausdruck - Sure 7 Vers 172: "Dein Herr hat aus dem Rückgrat der Kinder Adams Generationen hervorgebracht, die aufeinander folgten. (…) Er fragte sie: ‚Bin ich nicht euer Herr, ist Mohammed nicht von Gott gesandt, ist ‘Alî nicht der Fürst der Gläubigen?’ Darauf antworteten sie: ‚Doch, wir bezeugen es!‘"
    Neben der Verkörperung des Wortes Gottes in seiner letzten Ausprägung personifizieren ‘Alî und die Imame unter seinen Nachkommen auch die Mysterien. Und deren Kenntnis ist das ultimative Ziel aller prophetischen Botschaften im Allgemeinen und der Botschaft Mohammeds im Speziellen.
    Indem die Vertreter des offiziellen Mehrheits-Islams ‘Alîs Nachkommen von der Nachfolge im Kalifenamt ausschlossen und den Koran verfälschten, verrieten sie nach schiitischer Auffassung Mohammed und entstellten die Religion ihres Propheten.