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Sure 6 Vers 12
Ein Gott, der sich selbst zur Barmherzigkeit verpflichtet

Im Koran wird Gottes Barmherzigkeit sehr deutlich betont. In Vers 12 aus Sure 6, so scheint es, verpflichtet er sich sogar selbst zu dieser Eigenschaft. Aber wie passt das mit der Gerechtigkeit zusammen, die ihm ebenfalls sehr deutlich als Eigenschaft zugeschrieben wird und die dann und wann auch verlangt, Menschen zu bestrafen?

Von Prof. Dr. William Graham, Harvard University, Cambridge, USA | 09.03.2018
    "Sag: Wem gehört, was im Himmel und auf Erden ist? Sag: Gott. Er hat sich zur Barmherzigkeit verpflichtet. Er wird euch sicher zum Tag der Auferstehung versammeln, an dem kein Zweifeln besteht. Diejenigen, die ihre Seelen verloren haben, wahrlich diese sind ohne Glauben."
    Von Anfang an stimmten die Koran-Kommenatoren weitgehend darin überein, dass dieser Vers an die Götzendiener gerichtet ist - speziell an die Mekkaner als Verehrer mehrerer Gottheiten. Die meisten Kommentatoren bemühten sich darum, den Vers zusammenhängend zu interpretieren.
    Die Sendereihe "Koran erklärt" als Multimediapräsentation
    Dementsprechend halten sie fest, erstens beginnt er im rhetorischen Frage-Antwort-Stil mit der Proklamation der absoluten Herrschaft und Autorität Gottes über Himmel und Erde.
    Zweitens folgt unmittelbar darauf die Erklärung, dass Gott sich selbst auf Barmherzigkeit festlegt, was seinen Umgang mit der Schöpfung einbindet. An dieser Stelle zitieren die Koran-Exegeten gerne einen Hadith, eine Überlieferung vom Propheten Mohammed, wonach Gott gesagt habe: "Meine Barmherzigkeit überwindet meinen Zorn."
    Porträt von William Graham.
    William Graham lehrt als Professor an der renommierten Havard University in den USA. (priv.)
    Drittens bestätigt der Vers die unzweifelhafte Gewissheit des Tags der Auferstehung und des Endgerichts.
    Viertens schließt er mit der Anklage derjenigen ab, die "ihre Seelen verloren" haben, die "nicht glauben" und dadurch der ewigen Verdammnis ausgeliefert sind.
    Indem die Koran-Kommentatoren die Gläubigen am Tag des jüngsten Gerichts dem Paradies und die Ungläubigen der Hölle zuordnen, versuchen sie, etwaige Widersprüche zwischen Gottes Barmherzigkeit und Gottes Gerechtigkeit zu bereinigen. Ihr gängigstes Argument besagt, Gottes Barmherzigkeit bestehe darin, dass er die Vergeltung für die Ungläubigen auf den Tag der Abrechnung verschiebt. So hätten sie ein Leben lang Zeit, ihren sündigen Unglauben zu bereuen; einige Exegeten begrenzen diese Möglichkeit auf die Muslime.
    Einige Kommentatoren argumentieren indes, und so besagen es auch mehrere Hadithe, dass Gottes große Barmherzigkeit selbst am Jüngsten Tag noch als Fürsprache für viele sündhafte Ungläubige diene. Er werde sie aus der Hölle holen, ihnen den Zugang ins Paradies und einen Platz neben den rechtschaffenen Gläubigen gewähren.
    Der vierte Teil des Verses über jene, "die ihre Seelen verloren haben", wird in der Regel auch auf den Jüngsten Tag bezogen und dabei konkret auf die Götzendiener, die Abbilder verehrt und Gott somit Partner beigesellt haben. Diese schwerste aller Sünden, im Arabischen "shirk" genannt, wird im Jenseits mit der Übersendung in die Hölle vergolten - und zwar "für immer und ohne Tod", wie es in einem Hadith heißt. Eine solche Beigesellung bedeutet, dass man das Einssein Gottes sowie seine Herrschaft nicht anerkennt und demzufolge die Kernbotschaft des Propheten und der heiligen Schrift ablehnt.
    Sure 6 Vers 12 ist die einzige Stelle im Koran, in der Gott sich selbst die spezifische Eigenschaft der Barmherzigkeit ("rahma") "vorschreibt" oder "auferlegt". Das ist gleichbedeutend mit der Aussage, dass Barmherzigkeit grundlegend für sein Wesen ist.
    Dennoch wurde diese Aussage zu einem Streitpunkt. Auf der einen Seite standen jene Denker, die Gottes wesensmäßige Gerechtigkeit bewahren wollten. Das sind zuvorderst die berühmten "rationalen Theologen" der sogenannten mu’tazilitischen Schule.
    Auf der anderen Seite standen jene, denen es um den Erhalt von Gottes völliger Transzendenz ging. Für sie war jede Unumgänglichkeit, sogar eine selbst auferlegte, eine Beeinträchtigung der Allmacht Gottes. Barmherzigkeit beziehungsweise Gerechtigkeit würde über ihn selbst erhoben, argumentierten sie. Diese Auffassung wurde vor allem von der ascharitischen Schule vertreten - der theologischen Hauptströmung im sunnitischen Islam.
    Die Audioversion musste aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzt werden.