Mittwoch, 24. April 2024

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Sure 85 Verse 21-22
Die wohlverwahrte Tafel

Das Konzept der "wohlverwahrten Tafel" ist vielen Muslimen vertraut. Auf diesem geheimnisvollen Objekt ist Gottes Wille und Wort notiert - also auch der Koran. Mithin ist das Buch, das Muslime heute in Händen halten, lediglich eine Abschrift davon. Das hat Konsequenzen für das Glaubensverständnis.

Von Dr. Devin Stewart, Emory University, Atlanta, Georgia | 29.04.2016
    "Nein, es ist der ruhmreiche Koran auf einer wohl verwahrten Tafel."
    Wenn der Koran der heilige Text ist, den die Muslime gewohnheitsmäßig lesen, warum weisen diese Verse dann auf eine geheimnisvolle "wohl verwahrte Tafel" hin?
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Ein Gläubiger kann heutzutage eine Abschrift des Korans - auf Arabisch heißt sie "mus’haf" - in die Hand nehmen, und seinen Text zwischen zwei Buchdeckeln untersuchen. Dabei vergisst man leicht, dass das damals, als der Prophet die Offenbarungen der ursprünglichen Zuhörerschaft in Mekka und Medina überbrachte, unmöglich war. Der Koran selbst stellt klar, dass er während der Prophetenschaft Mohammeds nicht in Buchform aufgezeichnet wurde. Mohammeds Gegner kritisieren ihn in Sure 25 Vers 32 dafür, dass er die Offenbarung nicht als komplettes Buch überbringt.
    Man muss sich folglich vergegenwärtigen, was dann damit gemeint ist, wenn der Koran von sich selbst als "Buch" oder "Schrift" spricht.
    Devin Stewart steht draußen in der Natur, man hat weite Sicht über eine herbstlich gefärbte Waldlandschaft.
    Devin Stewart lehrt als Associate Professor in Georgia im US-Bundesstaat Atlanta. (priv. )
    Das Buch, von dem hier die Rede ist, ist ein Text, den man sich in überirdischen Sphären vorstellte. Er konnte sich nur manifestieren, indem Zitate daraus durch den Prozess einer Offenbarung an die irdische Sphäre übermittelt wurden. Sure 56 Vers 78 bekräftigt diese Vorstellung. Sie besagt, der Koran sei in einem "verborgenen Buch" verzeichnet, den alltäglichen Blicken der Menschen entzogen.
    Dieses Verständnis hilft, verschiedene rätselhafte Eigenschaften des Korantexts zu erklären. Die zweite Sure mit Namen "Die Kuh" beginnt mit der Aussage: "‘Alif, Lâm, Mîm. Jenes ist das Buch, an dem nicht zu zweifeln ist."
    Im Gegensatz dazu heißt es in fast jeder Übersetzung des Korans: "Dieses ist das Buch…" Der Originaltext benutzt aber eindeutig das Demonstrativpronomen der Ferne, also: "Jenes ist das Buch..." - auf Arabisch: "dhâlika". Er benutzt nicht das Demonstrativpronomen der Nähe: "dieses". Denn das heißt auf Arabisch "hâdha".
    Die Übersetzung ist also technisch falsch. Der entscheidende Punkt ist aber, dass ein wichtiges Konzept verschleiert wird. Die Formulierung "jene/jenes" zeigt nämlich an, dass die besagte Schrift nicht unmittelbar präsent, sondern eben ein himmlisches Buch ist, zu dem der Prophet durch göttliche Inspiration Zugang hat.
    Berücksichtigt man diese Überlegungen, legen die arabischen Buchstaben "‘alif, lâm, mîm" zu Anfang der Sure die Vermutung nahe, dass sie die göttlichen Aufzeichnungen repräsentieren, die auf der himmlischen Tafel eingraviert sind. Diese "geheimnisvollen" Buchstaben stehen am Anfang von 29 der insgesamt 114 Suren.
    Korankommentatoren und Theologen spekulierten auch über die speziellen Eigenschaften der wohlverwahrten Tafel. Sie beschrieben sie als Tafel, die aus weißen Perlen besteht und sich rechts neben Gottes himmlischem Thron befindet. Diese Assoziation wird durch die Erwähnung des Throns einige Verse zuvor in Sure 85 Vers 15 angedeutet.
    Die wohlverwahrte Tafel kann auch mit zwei weiteren koranischen Ausdrücken in Verbindung gebracht werden. Diese sind: "das verborgene Buch" und "die Mutter des Buchs". In Sure 56 Verse 77 bis 78 heißt es: "Das ist wahrlich ein edler Koran in einem verborgenen Buch." Diese Aussage kommt der aus dem hier besprochenen Vers sehr nah. Die beiden Ausdrücke "verborgenes Buch" und "wohl verwahrte Tafel" sind synonym.
    Der Ausdruck "Mutter des Buchs" taucht in drei Koranversen auf (3:7, 13:39, 43:4), die jeweils betonen, dass sich diese "Mutter des Buchs" in Gottes Besitz befindet. Nach Ansicht vieler Kommentatoren handelt es sich dabei nicht nur um die Quelle für den Koran, sondern auch für alle anderen Heiligen Schriften.
    Die Ausdrücke "wohl verwahrte Tafel", "verborgenes Buch" und "Mutter des Buchs" sind in jedem Fall miteinander verwandt. Zudem dürften sie sich auf ein und dasselbe himmlische Buch beziehen, dass sich in übersinnlichen Gefilden befindet und die Botschaft des Korans enthält.

    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Sendezeitgründen leicht gekürzte Version.