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Sure 9 Vers 122
Warum Rechtsgelehrte im Islam eine so hohe Stellung haben

Der Islam gilt wie das Judentum als eine Gesetzesreligion. Gebote, Verbote und sonstige rechtliche Regelungen haben für Gläubige eine hohe Bedeutung. Damit einher geht eine große Wertschätzung für Gelehrte des religiösen Rechts. Aber warum ist das so?

Von Dr. Devin Stewart, Emory University, Atlanta, USA | 24.11.2017
    "Die Gläubigen dürfen nicht alle auf einmal zum Kampf hinausziehen. Warum zieht nicht aus jeder Gruppe nur eine Abteilung hinaus, damit (die Zurückbleibenden) Wissen in der Religion erlangen? Sie könnten ihre Leute dann nach der Rückkehr belehren, damit sie sich vor dem Bösen in acht nähmen."
    Dieser Vers gehört zu einer Koranpassage, in der militärische Kampfeinsätze diskutiert werden. Ihm folgen verschiedene Verse, in denen Menschen in Medina und Beduinen aus der Umgebung gerügt werden, weil sie sich weigern, Mohammeds Ruf zu den Waffen zu folgen.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Unser Vers stellt nun klar, dass es dabei eine wichtige Ausnahme gibt. Nicht alle tauglichen Männer eines Stammes oder einer Gemeinschaft werden zum Kampfeinsatz benötigt. Vielmehr sollen einige sogar zurückbleiben, "damit sie Wissen in der Religion erlangen.
    Der Vers beinhaltet ein gewisses Wortspiel: Der arabische Begriff für "hinausziehen" kann sowohl für die Männer benutzt werden, die zu den Kampfeinsätzen ausrücken, als auch für jene, die zuhause bleiben, um sich dem Lernen zu widmen.
    Devin Stewart steht draußen in der Natur, man hat weite Sicht über eine herbstlich gefärbte Waldlandschaft.
    Devin Stewart lehrt als Associate Professor in Georgia im US-Bundesstaat Atlanta. (priv. )
    Beide Verpflichtungen sind gleich wichtig, denn beide beschützen die Gemeinschaft: Kämpfer bewahren sie vor materiellem Schaden, Gelehrte vor Verdammung, zu der eine Ignoranz göttlicher Gebote und Verbote führen kann.
    Mithin können weder alle Mitglieder der Gemeinschaft Kämpfer sein noch Gelehrte. Einzelne erfüllen das, was man im islamischen Recht "fard kifâya" nennt: eine Verpflichtung, stellvertretend für die ganze Gruppe. Kommen einige Mitglieder einer bestimmten Pflicht nach, sind die anderen von ihr befreit.
    Mit Lernen allein ist es jedoch im Fall der Gelehrten nicht getan. Um ihrer Verpflichtung richtig nachzukommen, müssen sie dem Vers zufolge den Rest der Gemeinschaft belehren beziehungsweise unterrichten.
    In dem Vers wird das arabische Verb für "Wissen erlangen": "yatafaqqahu" explizit auf religiöses Recht bezogen. Das geschieht aus einer einfachen Erklärung heraus. Von "yatafaqqahu" ist das arabische Wort "fiqh" abgeleitet. Dieses Wort wurde bereits früh zum Standardbegriff für Islamisches Recht. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
    "Fiqh" bedeutet islamisches Recht, "faqîh" - ebenfalls davon abgeleitet - islamischer Jurist. Folglich muss "yatafaqqahu" heißen, islamisches Recht studieren. Diese Schlussfolgerung aber ist irreführend.
    Verben, die mit "yatafaqqahu" verwandt sind, tauchen 19 Mal im Koran auf. Alle vermitteln jedoch die Bedeutung "verstehen" und haben mit religiösem Recht wenig zu tun.
    Die Midianiter, das Volk zu dem der Prophet Schu’aib kam, sagten laut Sure 11 Vers 91: "O Schu'aib, wir verstehen kaum etwas von dem, was du sagst." Ähnlich heißt es in Sure 4 Vers 78: "Warum verstehen denn diese Leute kaum etwas von dem, was ihnen gesagt wird?"
    Nur der Vers, den wir hier besprechen, vertritt die Vorstellung, das Verb "yatafaqqahu" sei speziell mit der Bedeutung religiöses Recht verknüpft; es ist durchaus möglich, dass das islamische Recht allein deshalb "fiqh" genannt wird, weil das Verb in diesen Koranstellen so verstanden wurde.
    Der Vers 122 aus Sure 9 wurde jedenfalls zu "dem" textlichen Standardbeweis für die religiöse Autorität von Rechtsgelehrten. Er hebt ganz klar eine Gruppe von Gelehrten heraus, die dazu berufen ist, den Rest der Gemeinschaft in Glaubensangelegenheiten zu unterweisen.
    In späteren Schriften wurde auch argumentiert, der Vers begründe ebenso den sogenannten "taqlîd". "Taqlîd" meint, dass einfache Gläubige verpflichtet sind, sich in religiösen Fragen an qualifizierte Rechtsgelehrte zu halten.