Freitag, 29. März 2024

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Sure 90 Vers 1-10
Von möglicherweise nachträglich hinzugefügten Koranversen

Nach der Erläuterung der Verse 4 und 10 mit Hinweisen zum bewussten oder unbewussten Bedeutungswandel einzelner Ausdrücke in der letzten Sendung geht es nun um die gesamte Passage von Vers 1 bis 10. Dass der Koran schwer zu verstehen ist, hängt nicht nur mit inhaltlichen Fragen zusammen. Manchmal könnte es schlicht damit zu tun haben, dass Verse nachträglich hinzugefügt wurden. Ein heikler Gedanke zu einem "göttlichen" Text.

Von Dr. Munther A. Younes, Cornell University, Ithaca, New York, USA | 28.04.2017
    "Ich schwöre bei dieser Stadt,
    in der du dich aufhältst.
    Bei jedem Vater und dem, was er zeugt!
    Wir haben den Menschen zur Mühsal erschaffen.
    Meint er etwa, dass niemand Macht über ihn habe?
    Er sagt: ‚Ich habe ein ganzes Vermögen ausgegeben.‘
    Denkt er, dass niemand ihn gesehen habe?
    Haben Wir ihm nicht zwei Augen gegeben,
    und eine Zunge und zwei Lippen?
    Und ihm nicht die beiden Wege gezeigt?
    "
    Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die mittleren Verse (5-7) dem Originaltext des Korans nachträglich hinzugefügt worden sind. Also die Verse: "Meint er etwa, dass niemand Macht über ihn habe? Er sagt: 'Ich habe ein ganzes Vermögen ausgegeben.' Denkt er, dass niemand ihn gesehen habe?".
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Ein Vergleich dieser Verse mit den vorangehenden und den nachfolgenden zeigt deutliche Schwächen bei der Komposition des Textes. Das gilt sowohl für den Inhalt als auch für die Form.
    Hinsichtlich des Inhalts lässt sich festhalten: Weder wird in den mittleren Versen ein Gedanke fortgesetzt, noch gibt es eine klare Vorstellung von der Aussage. Vers 4 besagt, der Mensch sei zur Mühsal beziehungsweise zum Leiden erschaffen. Ergibt es da einen Sinn, wenn man den Menschen unmittelbar darauf mit seinen Fähigkeiten, seiner Stärke und dem Ausgeben seines Vermögens prahlen lässt?
    Munther A. Younes
    Dr. Munther A. Younes lehrt an der renommierten Cornell University im US-Bundesstaat New York. (priv.)
    Auch erfüllt die teilweise Wiederholung des fünften Verses im siebten keinen eindeutigen Zweck.
    Der einzige Grund, warum die mittleren Verse in der Sure auftauchen, scheint der Versuch zu sein, den Menschen in einem negativen Licht zu zeigen.
    Klammert man diese Verse einmal aus, wären die Verse 8 bis 10 eine passende Fortsetzung der Verse 1 bis 4. Sofern man den arabischen Ausdruck "fî kabad" nicht mit "zur Mühlsal" übersetzt, sondern mit: "in bester Gestalt". Und sofern man das Wort "al-nadschdayn" nicht als "die beiden Wege" versteht, sondern als "die zwei Brüste". Genau so nämlich wurden die Begriffe von mehreren der frühesten Korankommentatoren verstanden.
    Die erste Hälfte der Sure würde demnach wie folgt lauten:
    "Ich schwöre bei dieser Stadt aufrichtig,
    und Du bis ein rechtmäßiger Bewohner dieser Stadt.
    Bei dem Vater und bei denen, die er gezeugt hat,
    fürwahr wir haben den Menschen in bester Gestalt erschaffen.
    Haben wir für ihn nicht ein Augenpaar gemacht?
    Und eine Zunge und zwei Lippen?
    Und haben wir ihn nicht zu den Brüsten (seiner Mutter) geleitet?"
    Ich glaube, dass das die ursprüngliche Bedeutung des Anfangs von Sure 90 gewesen ist. Einer der wiederkehrenden Themen im Koran ist nämlich Gottes Aufruf, sich über die Wunder der Schöpfung Gedanken zu machen. Diese rekonstruierte Version des Surenanfangs wäre dafür ein gutes Beispiel.
    Wir haben doch schließlich alle schon einmal über die Funktion von Augen, Zunge und Lippen gestaunt, oder? Also über das Sehen, das Sprechen, das Schmecken. Und wir waren doch auch alle schon einmal verwundert darüber, dass ein Baby unmittelbar nach der Geburt die Brust seiner Mutter sucht und findet?
    Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.